"Anora"-Regisseur Sean Baker: Ein Herz für Ränder der Gesellschaft
Der preisgekrönte Film "Anora" um eine Hochzeits-Odysee der Stripperin Ani, hat dem 53-Jährigen US-Regisseur Sean Baker die Goldene Palme beim Filmfest Cannes beschert. Er startet nun im Kino. Ein Porträt.
Kaum jemand kämpft im US-Kino so beherzt für die Ungesehenen, die Übergangenen der Gesellschaft, wie er. "Ich mache Filme über die Dinge, die ich selbst auf der großen Leinwand sehen möchte", sagt Sean Baker lächelnd im Gespräch mit NDR Kultur. Bereits fünf Filme hat er über Sex-Arbeitende gedreht. Er sehe einfach nicht genug dieser Geschichten im Kino und im Fernsehen.
Der US-Drehbuchautor, Regisseur, Kameramann und Produzent aus New Jersey behält gern die Kontrolle über seine Independent-Kinoproduktionen - und schneidet alle seine Kinofilme selbst. In diesen spielen oft Laien mit, die Baker gemeinsam mit seiner Ehefrau Samantha Quinn castet. Dadurch erhalten die sozialrealistischen Filme einen dokumentarischen Charakter - auch, weil Bakers Filme nie im Studio gedreht sind: "Original-Locations sind das Wichtigste für mich", sagt er.
Erfolg von 2017: "The Florida Projekt" mit Willem Dafoe
Dazu gehört etwa der auf dem I-Phone gedrehte Film "Tangerine L.A." von 2015 über eine transsexuelle Prostituierte und der Publikumsliebling "The Florida Projekt" von 2017 mit Willem Dafoe als gutmütigem Manager in einem Motel-Apartmentkomplex für Wohnungslose. Diese leben vor den Toren des Disney-Vergnügungsparks in Florida.
Nun folgte diese turbulente Odyssee der Sexworkerin Anora, genannt Ani, die bei ihrer Arbeit einen russischen Oligarchensohn kennenlernt und nach einer Blitzhochzeit mit ihm und dessen Entourage ihr blaues Wunder erlebt. Die wenige Tage umfassende Odyssee in und um Coney Island hat Sean Baker auf 35-Millimeter Filmmaterial gedreht.
Durch Kinoerfolge wie "The Florida Project" konnte er bei diesem Projekt darauf bestehen, "dass 'Anora' auf jeden Fall zuerst ins Kino kommt“, erzählt Baker. "Dafür haben wir ihn gemacht! Das ist für mich sehr wichtig und ein heißes Thema, weil leider weiterhin reihenweise Kinos dichtmachen." Das Publikum sei durch Umstände wie die Pandemie nicht mehr gewohnt, das Kinoerlebnis dem heimischen Wohnzimmer vorzuziehen: "Durch die Streamingdienste haben die Leute die Magie des Kinos vergessen."
Nicht nur hat "Anora" die Goldene Palme beim Filmfest in Cannes erhalten - übrigens unter Juryvorsitz der US-Regiekollegin Greta Gerwig ("Barbie"). Er läuft weltweit als Publikumsliebling auf Festivals wie in San Sebastián, London, New York und vor wenigen Wochen beim Filmfest Hamburg. In den USA hat er gerade einen soliden Start hingelegt, obwohl er als relativ kleine Produktion in kleineren Kinos läuft.
Sean Baker über sein Vorbild: "Pedro Almodóvar ist ein Gigant"
Kurioserweise läuft parallel im deutschen, wie auch im US-Kino gerade Pedro Almodóvars englischsprachiges Debüt "The Room Next Door", das diesen Herbst den Goldenen Löwen beim Filmfest Venedig gewonnen hat. Almodóvar war stets ein Vorbild für Baker, der die Filme des 75-jährigen Spaniers während seines Studiums an der New York Universität of Film kennengelernt hat. "In den frühen 90er-Jahren hat er bereits Themen sehr offen behandelt, die ich nur bei ihm gesehen habe. Er hat damals viele Themen gezeigt, um die es auch in meinen Filmen geht: Sexarbeit, der Fokus auf bestimmte LGTB-Gruppen, Drogenkonsum. Er hat vieles davon mit seinem mutigen Erzählen fürs Kino normalisiert. Ich halte ihn für einen Giganten, der großen Einfluss auf mein Kino hat. Er weiß, wie sehr ich ihn bewundere, das ist ihm schon zu Ohren gekommen. Wir haben uns aber noch nie getroffen", erzählt er lachend.
"Anora" dürfte nun allein wegen der eindrucksvollen Leistung der großen Entdeckung Mickey Madison als Hauptdarstellerin im Gespräch für die großen Oscar-Kategorien sein. Die Goldene Palme beeinflusse die Karriere aller Beteiligten am Film, sagt Baker über die Bedeutung der Auszeichnung. "Die Leute fragen mich nun, ob ich doch im Studio drehen werde. Das Gegenteil ist der Fall. Ich kann mit größerer Sicherheit da weiterarbeiten, wozu ich Lust habe. Das bedeutet mir alles."
Es sei sowieso schwierig, unabhängig finanzierte Filme zu drehen - besonders mit seinen Themen und seiner fehlenden Bereitschaft, Stars für die Rollen zu besetzen. "Ich habe nichts gegen die. Wenn ein Star für meinen Film passt, werde ich gern mit ihm zusammenarbeiten. Am wichtigsten ist aber, wer für mich ganz persönlich zur Rolle passt. Das kann also Leonardo DiCaprio sein - oder mein Nachbar." Das beeinflusse natürlich die Vermarktbarkeit des Filmes - aber da geht Sean Baker keine Kompromisse ein. Auch nicht in Zukunft.