Ein Platz in Schwerin, fotografiert von oben, ist bevölkert mit Komparsen für den Film "Aus meiner Kindheit". © DEFA-Stiftung / Heinz Wenzel Foto: Heinz Wenzel
Ein Platz in Schwerin, fotografiert von oben, ist bevölkert mit Komparsen für den Film "Aus meiner Kindheit". © DEFA-Stiftung / Heinz Wenzel Foto: Heinz Wenzel
Ein Platz in Schwerin, fotografiert von oben, ist bevölkert mit Komparsen für den Film "Aus meiner Kindheit". © DEFA-Stiftung / Heinz Wenzel Foto: Heinz Wenzel
AUDIO: Als Schwerin für einen Film über Ernst Thälmann zu Hamburg wurde (13 Min)

Als Schwerin für einen Film über Ernst Thälmann zu Hamburg wurde

Stand: 25.04.2023 07:02 Uhr

1974 dreht die DEFA in Schwerin den Film "Aus meiner Kindheit" über die Jugend von Ernst Thälmann. Der Regisseur und sein Schweriner Hauptdarsteller erinnern sich an Massenszenen mit Sowjetsoldaten als Hamburger Hafenarbeiter und echte Schläge vor der Kamera. 

von Axel Seitz

Auf dem Markt in Schwerin steht plötzlich ein großer Brunnen. Geschäfte haben neue Bezeichnungen wie "Colonialwaren" und "Tauwerk - Anker - Winden". Eine Gaststätte wirbt als "Brauhaus Teutonia" um Gäste. Und durch die Enge Straße rumpelt ein Pferdefuhrwerk über das Kopfsteinpflaster.

"Aus meiner Kindheit" zeigt Ernst Thälmanns Leben um 1900 

Im April 1974 sind viele Einheimische erstaunt über das neue, alte Aussehen der damaligen DDR-Bezirksstadt. Zu diesem Zeitpunkt dreht der damals 31-jährige Regisseur Bernhard Stephan seinen zweiten Spielfilm bei der DEFA. Im Mittelpunkt der Handlung von "Aus meiner Kindheit" steht der jugendliche Ernst Thälmann. 

"Mich hatte einfach interessiert, die ganz normale Kindheit um 1900 von dieser später großen historischen Persönlichkeit zu erzählen", erzählt Stephan. "Wie wird man 'groß'? Welche Erfahrungen sammelt man?" Die Geschichte des Films spielt in Hamburg, wo Thälmann aufwuchs. Dabei spielt der Hafen natürlich eine wichtige Rolle. "Im Hafen begegneten Thälmann fremde Kulturen, aber auch die sozialen Auseinandersetzungen, die durch Schauerleute und Hafenarbeiter vehement vorhanden war", so der Regisseur. 

Hamburg im Film: Schwerin passte als Drehort am besten  

Der Regisseur Bernhard Stephan spricht während eines Interviews in ein NDR Mikrophon. © NDR Foto: Axel Seitz
Regisseur Bernhard Stephan erinnert sich an die Dreharbeiten zum Thälmann-Film "Aus meiner Kindheit".

Da Filmleute von der ostdeutschen DEFA zu jener Zeit kaum im westdeutschen Hamburg drehen konnten, musste die Produktionsfirma ein Äquivalent suchen. "Die Gängeviertel, die in Hamburg so eine wesentliche Rolle spielten, fanden wir auch so ähnlich in Schwerin - von der Architektur her war die Stadt einfach am passendsten", erinnert sich Stephan. "Auch war die Bevölkerung sehr entgegenkommend."  

Die Hafenszenen von "Aus meiner Kindheit" wurden in Stralsund, Wismar, und den Babelsberger Filmstudios gedreht. Die meisten Außenaufnahmen entstanden jedoch in Schwerin, beispielsweise eine am Pfaffenteich, in der der Kaiser das Hamburg der Jahrhundertwende besucht. "Wir hatten als Orchester das Standort-Musikorchester der Deutschen Volkspolizei engagiert", erzählt der Filmemacher. "Die machten mit einer unheimlichen Begeisterung mit. Sie hatten kaiserliche Uniformen an, Pickelhauben auf und hauten rein. Dabei lachten die Musiker sich tot, es war schon putzig."

Hauptdarsteller Michael Hundrieser: Klitschnasse Hände beim Drehbeginn 

Als Statisten wurden zahlreiche Schweriner engagiert - und auch der Hauptdarsteller kam aus der Stadt. "Ich erinnere mich, wie ich als 14-Jähriger am 16. April 1974, dem Geburtstag von Ernst Thälmann, mit klitschnassen Händen und bibberndem Herzen die erste Szene für den Film in Babelsberg gedreht habe", erzählt Michael Hundrieser. Der Schauspieler kam damals durch Zufall in die engere Wahl. "Am Schweriner Staatstheater gab es diesen Schauspieler Manfred Banach. Und der hat den Filmleuten gesagt: Guckt euch mal den Michael Hundrieser an."   

Banach war zwischen 1960 und 1975 am Mecklenburgischen Staatstheater engagiert und der Stiefvater einer Klassenkameradin von Hundrieser. Über diese Verbindung bekam der 14-Jährige, trotz Widerständen in seiner Schule, die Hauptrolle. "Die Leute, die mich kennen, wissen, dass ich nicht immer ganz so der Ruhige war, vorsichtig ausgedrückt. Und die Schule war nicht so erbaut davon, dass ich, übrigens Sohn eines privaten Taxifahrers, den Ernst Thälmann spielen sollte. Es gab wohl sehr viele Diskussionen und Überzeugungsarbeit von der DEFA, dass ich ihn trotzdem spiele."

Schmerzhafter Dreh: "Er hat mir richtig einige geballert" 

Der Schauspieler Michael Kröger hält Szenen-Bilder des Film "Aus meiner Kindheit" in die Kamera. © NDR Foto: Axel Seitz
Hauptdarsteller Michael Hundrieser, heute Michael Kröger, ist 14, als er die Hauptrolle in dem Film über Ernst Thälmann bekommt.

Den Vater von Ernst Thälmann spielte in dem Film Norbert Christian. An eine gemeinsame Szene kann sich Michael Hundrieser, der seit seiner Eheschließung Michael Kröger heißt, besonders gut erinnern: Nämlich als auf dem Markt das Pferd der Familie Thälmann durchgeht. "Die Szene wurde dreimal gedreht. Das Pferd ist gegen einen Laternenmast gestoßen - und dann hat er mir erst mit der Vorhand und dann mit der Rückhand eine geknallt. Wenn man genau darauf achtet in dem Film, sieht man, wie oben meine Nase leicht anschwillt. Er hatte nämlich auf der rechten Hand einen Ring - das hat weh getan. Er hat sich nicht zurückgenommen, hat mir richtig einige geballert."

Neben Norbert Christian, der seinen Filmsohn schlägt, spielen unter anderen Barbara Adolph, Willi Schrade und Katrin Martin in dem Film. In Nebenrollen spielen auch Marianne Barth, Udo Molkentin, Rudolf Korf, Kurt Nolze und Wolf-Dieter Lingk vom Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin. 

Bernhard Stephan: Riesenprojekt für jungen Regisseur 

Regisseur Stephan blickt nach all den Jahren mit einer gewissen Genugtuung auf die Dreharbeiten im Frühjahr 1974: "Ich war ja noch sehr jung. Und einen so aufwendigen Film zu stemmen, ist nicht so einfach. Wir hatten unheimlich viele Statisten für Massenszenen, einen großen Apparat mit Garderobe, Maske und so weiter. Ich musste das alles leiten, aber es hat funktioniert."

Dem Leben von Ernst Thälmann, dem langjährigen Vorsitzenden der KPD, widmete die DEFA insgesamt drei Spielfilme. Zunächst drehte Kurt Maetzig zwischen 1953 und 1955 den Zweiteiler "Ernst Thälmann: Sohn seiner Klasse" sowie "Ernst Thälmann: Führer seiner Klasse". 1974 entstand dann "Aus meiner Kindheit" über den jugendlichen Ernst Thälmann.

Film hatte jugendliches Publikum im Sinn

Andreas Kötzing arbeitet am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden und kennt sich mit der Mediengeschichte der DEFA bestens aus. "Anders als bei den Thälmann-Filmen von Kurt Maetzig hat man mit 'Aus meiner Kindheit' versucht, eine Identifikationsmöglichkeit speziell für ein jugendliches Publikum zu schaffen", so Kötzing. "Wir erleben Thälmann in dem Film nicht als großen Arbeiterführer, der er einmal werden wird, sondern tatsächlich als Jugendlichen um das Jahr 1900 herum."

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Kötzing glaubt, dass die Idee der Filmemacher, Thälmann einem jüngeren Publikum näher zu bringen, nicht komplett aufgegangen ist: "Man kann anhand der Dokumente, die zum Entstehungsprozess überliefert sind, ganz gut nachvollziehen, dass es immer wieder Diskussionen gab: Wollen wir den Thälmann wirklich so menschlich zeichnen? Oder soll er nicht doch noch ein Stückchen politischer sein? Muss nicht das Klassenbewusstsein stärker herausgearbeitet werden in dem Film? Zwischen diesen beiden Polen waren die Filmemacher offenbar so ein bisschen hin- und hergerissen. Es gab keinen so eindeutigen Weg, den man hätte beschreiten können."

"Es durfte keine richtige Liebesgeschichte erzählt werden"

Dabei hätte es durchaus Potential gegeben, findet Kötzing: "Der Thälmann verguckt sich in dem Film in so ein Dienstmädchen, wo er mal ein paar Sachen ausliefern muss. Aber da traut sich der Film nichts. Es darf keine richtige Liebesgeschichte erzählt werden. Das wäre etwas gewesen, wo man ihn tatsächlich hätte menschlich zeigen können. Aber da schreckte man vor zurück."  

Auch Jahrzehnte nach der Entstehung des Films kann der inzwischen 63-jährige Hauptdarsteller dem Film viel abgewinnen: "Ich behaupte mal, jeder aus der DDR kannte Ernst Thälmann. Jetzt sah man einen Jungen,  der die Frauen anguckt, wie ein 14-Jähriger eben guckt, der Bier trinkt, der Zuhause abhaut, der im Obdachlosenasyl wohnt, der arbeiten muss, damit er etwas zu essen und zu trinken hat. Damit hatte keiner gerechnet: Dass Ernst Thälmann ein ganz normaler Junge war von 14 Jahren, genau wie wir es waren." 

Komparsen mit kurzen Haaren gesucht - Sowjetsoldaten sprangen ein 

Für den Laien Hundrieser in der Hauptrolle sprach für Regisseur Stephan vor allem, "dass er kein Schönling war." Außerdem hatte Hundrieser eine gewisse Ähnlichkeit mit Thälmann auf den wenigen Fotos aus dessen Kindheit. "Auch dieser Typus schwebte mir eben so vor. Beim Casting hat sich das dann manifestiert."

Für die Massenszenen benötigte die Produktion zahlreiche Statisten - doch die zu bekommen, war aber nicht in jedem Fall leicht, erinnert sich Stephan. "Für eine Gewerkschaftsversammlung benötigten wir 700 bis 800 junge Männer mit ganz kurzen Haaren. Nur trug damals jeder DDR-Jugendliche das Haar lang, ich auch übrigens. Wir bekamen einfach keine Männer mit kurzen Haaren, nicht mal über die Volkspolizei. Dann schickte ich meinen Produktionsleiter zum Standortkommandanten der Sowjetarmee. Nach einigen Umtrunken kamen zum Drehtag 700 Sowjetsoldaten mit ganz kurzen Haaren. Die wurden dann als Hamburger Schauerleute eingekleidet."

Thälmann-Darsteller: "Es war einfach überwältigend" 

Für den Hauptdarsteller war es dann, als der Film fertig war, ein unbeschreibliches Gefühl: "Handys gab es noch nicht, auch keine Videokameras. Ich habe mich ja vorher nur auf Fotos gesehen. Als ich dann den Film sah, war das einfach überwältigend. Auch in dieser Schlüsselszene, in der mir Norbert Christian eine ballert: Das bin genau ich, diese Mimik, das trifft heute noch auf mich zu. Mich hat der Film tief beeindruckt, er war einfach prägend."

Michael Kröger lebt heute noch in der Nähe von Schwerin. Und auch wenn der Film "Aus meiner Kindheit" nicht zu den DEFA-Produktionen zählt, die nachhaltig in Erinnerung geblieben sind, wird er heute noch auf den Film und seine Rolle angesprochen. 

"Aus meiner Kindheit" hatte dann am 15. Februar 1975 seine Premiere in Neubrandenburg und kam anschließend in die Kinos in der DDR.

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