Verstörende Uraufführung zum Start der Lessingtage in Hamburg
Die 16. Lessingtage im Hamburger Thalia Theater sind eröffnet. Bis zum 2. Februar zeigt das Festival Gastspiele aus aller Welt, aber auch Eigenproduktionen - wie die Uraufführung "Ajax und der Schwan der Scham" am Thalia Theater.
Ajax, gespielt von Maja Beckmann, ist kurz davor auszurasten. Sie ist ein leicht prolliger Kämpfertyp mit Trainingshose und Sneakern, voller Energie und voller Wut.
Ihr habt mich betrogen, jetzt spuckt ihr mir ins Gesicht, ha? Doch diesmal schluck' ich das nicht runter, ich fress' es nicht in mich hinein. Eine Demütigung zu viel. Ich bin an der Reihe, ich! Szene aus "Ajax und der Schwan der Scham"
Es geht um die Führungsposition im griechischen Heer im Krieg um Troja. Ajax' Konkurrent ist Odysseus: der Klügste, Liebling der Götter, Nils Kahnwald verkörpert ihn als nervösen Taktierer. Odysseus hat wie immer die Nase vorn - und lässt es Ajax spüren. Und Ajax? Hat es satt, immer nur Zweiter zu sein, läuft Amok. Kippt literweise Theaterblut über Odysseus aus, die rote Farbe spritzt bis ins Parkett.
"Ajax und der Schwan der Scham": Theaterabend geht einen fast aggressiv an
Das Theaterblut färbt eine riesige Leinwand rot, die danach über der Bühne aufgehängt wird, wie eine abgezogene Tierhaut. Ein brutales Bild. So ist dieser Theaterabend, er geht einen fast aggressiv an. "Spannend" finden es die Besucher und sie loben die "mega Theatertechnik im Hintergrund" sowie die "tollen Schauspielerinnen und Schauspieler".
Ajax verliert sein Gesicht. Und was kommt nach der Tat? Die Scham, die dringt tief in ihn hinein wie Gift. In der antiken Vorlage des Stücks stürzt sich Ajax vor Scham in sein Schwert. Und hier? Macht er einfach nicht mit, verweigert sich dem Suizid.
Regisseur gibt den Figuren viel Zeit und Luft
Regisseur Christopher Rüping lässt sich viel Zeit und er gibt den Figuren Luft. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sind immer auch sie selbst, immer öffentlich, blinzeln ins Publikum oder sehen sich auf einer Videoleinwand zu. Es entsteht eine zweite Ebene. "Am Anfang fand ich es ein bisschen verstörend", meint eine Zuschauerin im Anschluss, "weil das Publikum so direkt angesprochen wurde, man wusste nicht, ist das jetzt privat oder ist das eigentlich Spiel?" Und eine andere Zuschauerin findet: "Ich muss es erstmal verarbeiten. Ich fand es durchaus lustig und 'konzeptig'“.
Das Stück fängt leicht verkopft und etwas seminarhaft an, wird aber immer verstörender und körperlicher. Als Ajax sich seinem Schicksal verweigert, beginnt ein neues Stück. Seine Figur teilt sich auf, sein Double betritt die Bühne, gespielt von Pauline Rénevier.
Wenn sich alle ins Schwert stürzen, die sich schämen, dann bleiben ja nur die übrig, die völlig schamlos sind, und gibt’s von denen nicht eh schon zu viele? Szene aus "Ajax und der Schwan der Scham"
Zum Schluss: Monströser Effekt auf der Bühne
Dann wird es unheimlich, denn im Video wird in Echtzeit durch Künstliche Intelligenz das Gesicht von Pauline Rénevier mit dem des Hollywood-Stars Natalie Portman ausgetauscht - KI-generierte Deepfakes auf der Bühne. Der Effekt ist fast monströs. Die Scham von Ajax wird auf die Scham von heute übertragen - durch das millionenfache Reproduzieren unserer Bilder bei Social Media, weil wir unser Gesicht zu verlieren drohen, buchstäblich.
"Ich fand es so wahnsinnig schlau und tragisch und gleichzeitig so ehrlich und lustig - ich fand es genial", meint eine Zuschauerin nach der Uraufführung. Und so schleicht sich der Abend langsam in die eigene Wahrnehmung und wird zum Augenöffner. Wie viel "Ich" sind wir bereit aufzugeben?