"Vor Sonnenaufgang" in Hannover: Toxisches Miteinander mit Mettigel
Vom fehlendem Mitgefühl handelt Gerhart Hauptmanns sozialkritisches Drama. Der Dramatiker Ewald Palmetshofer hat den Stoff überschrieben, das Schauspiel Hannover ihn kurzweilig und sarkastisch inszeniert.
Thomas Hoffmann erhält unerwarteten Besuch. Sein alter Studienfreund und einstiger Zimmergenosse Alfred Loth ist gerade in der Gegend. Doch von der Gemeinschaft von einst ist nicht mehr viel übrig.
Zweifel an der Heldengeschichte des einstigen Freundes
Thomas (Max Koch) hat gerade die Firma seines Schwiegervaters übernommen, während Alfred (Hajo Tuschy) für eine linke Wochenzeitung schreibt. An der Heldengeschichte vom Aufstieg seines früheren Weggefährten hat Alfred große Zweifel: "Ein Heldenepos deines Aufstiegs, wie gegen jede Widerstände, die natürlich auch von oben kamen, wo du eigentlich bist und auch schon immer warst, aber egal, das muss an deiner neuen Wahlfamilie liegen."
Am Versuch, von anderen verstanden zu werden, scheitern auch andere Protagonisten. Tabitha Frehner spielt wunderbar sarkastisch Martha, Thomas´ Ehefrau und hochschwanger, die sich wehrt, aufs Gebären reduziert zu werden. Caroline Junghanns stellt deren Schwester Helene, die gerade eine Bruchlandung hingelegt hat, überzeugend verhärmt dar.
Innenbeschau einer dysfunktionalen Familie
Und Johanna Bantzer, die die Stiefmutter der beiden ist, bietet den einen oder anderen Slapstickmoment, wenn sie als Gattin des Alt-Firmenchefs mit der Mettigel-Platte für den Besuch durchs Bild stöckelt. Es ist die Innenbeschau einer dysfunktionalen Familie, die das Publikum in ihren Bann zieht. "Das hat mir gut gefallen, weil ich den Text so gut fand, der hat so viele Lücken gelassen, die man sich selber ausdenken konnte", sagt eine junge Frau. Ein andere Besucher fügt hinzu: "Das ist dann anrührend, wenn man so heftige Dinge aus der Familie mitkriegt."
Wieder kann dem Hoffnungslosen nichts Schlimmeres passieren als neue Hoffnung, die den Graben aufreißt wieder, hin zu dem, was da nicht ist. Zitat aus "Vor Sonnenaufgan" am Schauspiel Hannover
Das fehlende Mitgefühl für die Lage des Nächsten spiegelt Bühnenbildnerin Nina Peller geschickt mit dem kühlen 80er-Jahre-Interieur eines zweistöckigen, neonbeleuchteten Wohnkäfigs. Groß und gestählt blicken die Familienmitglieder als riesige Fotoprints von den Wänden, präsent und doch emotional nicht erreichbar.
Gelunges Sound- und Videodesign
Per Video werden neue Räume geöffnet, in denen die Familienmitglieder im Verborgenen handeln, was diesen Zuschauern gefällt. "Meistens bin ich nicht begeistert von den Videoeinspielungen. Hier habe ich sie heute mal richtig genossen", sagt ein Zuschauer. Eine Besucherin lobt das Sound- und Videodesign, das Christopher Uhe und Hannes Francke mit Ute Schall in das traditionelle Stück integrieren.
Es ist der Zerfall einer bürgerlichen Familie, der als Spiegel für das toxische Miteinander in der Gesellschaft dient. Die Verwandten stehen vereinsamt im Leben, die politischen Standpunkte sind unvereinbar. Das erzählen Regisseur Stefan Pucher und Dramaturg John von Düffel am Schauspiel Hannover geradlinig und machen ihre Inszenierung kurzweilig.