Premiere von "Bittersüße Zitronen": Ohnsorg kann auch ernst
Mit lautem Jubel und langem Applaus hat das Publikum im Ohnsorg-Theater die Premiere des musikalischen Stücks "Bittersüße Zitronen" gefeiert. In seiner letzten Inszenierung als künstlerischer Leiter hat Murat Yeginer einen Klassiker umgeschrieben und nach Hamburg verlegt.
"Zitronen! Kauft Zitronen!", singt eine kleingewachsene und kindliche Zitronenjette und dreht sich im Kreis. Ihr gelbes Kleid ist längst verblichen. Die hellblonden Haare schreien nach einem Friseur. Das Hamburger Original ist auf der Bühne so zu sehen, wie es original war: arm, ausgelacht, am Rande der Gesellschaft. Regisseur Murat Yeginer nimmt Gerhart Hauptmanns weltbekanntes Sozial-Drama "Die Ratten" und verlegt es von Berlin ins Hamburger Gängeviertel und baut die legendäre Zitronenverkäuferin ganz ohne Hamburg-Kitsch einfach mit in die Handlung ein. Marina Lubrich spielt die Zitronenjette zu Herzen gehend.
Rabea Lübbe ist ein Ereignis
Mal klingt der Abend wie vor 120 Jahren, mal wird in Euros gezahlt und es wird gegendert. Die Yeginer-Version der "Ratten" ist im besten Sinne zeitlos. Die Bühne ist ein Theaterfundus auf einem Dachboden. Hier treffen sich zwischen abgespielten Requisiten die grell wie Knallchargen geschminkten Gestalten und ringen ums Überleben. Hier spielt sich auch das Drama um Jette John ab, die auf dem Dachboden für Ordnung sorgt. Sie hat ihr Kind verloren und drängt nun eine Prostituierte (Tanja Bahmani) dazu, ihr ihres zu überlassen. Rabea Lübbe, die bislang im Ohnsorg so oft zum Lachen gebracht hat, ist - mit ihren blutunterlaufenen Augen, blassgeschminkt und fast schon jenseitig - als Frau John ein Ereignis. Man sieht ihr beim Verrücktwerden zu. Gruselig!
Ein anderer Ton fürs Ohnsorg
Und das in einer maßgeschneiderten Kulisse: Beate Zoff hat wieder großartige, schräge Kostüme und ein starkes Bühnenbild geschaffen. Auf der Bühne finden sich Requisiten alter Ohnsorg-Stücke: Taucherglocken, Grammophone, Schafsköpfe, Zirkusplakate - es ist wie eine kleine Reise durch die vergangenen Ohnsorg-Jahre. In den Regalen sitzen Musiker wie Puppen, die immer wieder zu Liedern und Chansons erwachen (Musik: Christian von Richthofen). Ein bisschen wie bei Bertolt Brecht! Für Ohnsorg Traditionalisten ist das ein vielleicht manchmal ungewöhnlicher Abend.
Yeginer blickt zurück
Murat Yeginer hat das Ohnsorg fast sechs Jahre als künstlerischer Leiter geprägt. Am Abend der Premiere räumt er ein, dass es aber auch "richtige Probleme" gab, wenn er etwa in der Vergangenheit Stücke mit zu großen Hochdeutsch-Anteilen angesetzt hatte. Er habe dabei erlebt, dass es am Ohnsorg einen etwas schmaleren Handlungsradius gegeben habe. "Ich denke, dass ich das ein bisschen aufgemacht habe", sagt er am Rande der Premiere.
Ohnsorg-Streit auf der Bühne
Wie in Hauptmanns "Ratten" geht es auch in Yeginers Version ums Theater. Und so finden sich sehr lange Dialoge zwischen dem Theaterdirektor (Konstantin Graudus herrlich rotwangig mit Pelzkragen und roten Lederhandschuhen) und seinem Schauspielschüler (Flavio Kiener) darüber, was Theater eigentlich sein soll - auf Hochdeutsch. Und dann ist es plötzlich so, als würde Yeginer auf der Bühne den Ohnsorg-Richtungsstreit aus dem vergangenen Jahr nachspielen - ein Reenactment der eskalierten Mitgliederversammlung - mit Schrei am Ende. Man spürt, es ist Murat Yeginer wichtig, am Ende seiner Amtszeit auch mal ein grundsätzliches Statement über seine Sicht aufs Volkstheater abzugeben, das das Publikum von morgen im Blick hat. Es macht den Abend aber auch ein bisschen lang.
Starke Leistung des Ensembles
Die Stunde nach der Pause ist ungleich eindringlicher - dann auch fast komplett auf Plattdeutsch. Das Ensemble spielt spitze. Jannik Nowak als ehrlicher Handwerker Paul John, Robert Eder als Blockwart-Hausmeister und Caroline Kiesewetter mit ihren Songs beispielsweise bringen Farbe und Funken in den Abend. Auch Beate Kiupel als Frau des Theaterdirektors, Sorina Kiefer als seine Geliebte und Nele Larsen als Tochter zeigen selbst in kleineren Rollen, wie personell hervorragend das Ohnsorg ausgestattet ist. Und so kann die niederdeutsche Bühne mit dieser aufwändigen Produktion mit Schmackes ‚All in‘ gehen.
Vor allem aber Marina Lubrich als Zitronenjette, Rabea Lübbes Frau John und Cem Lukas Yeginer, der Sohn des Regisseurs, als ihr krimineller Bruder Bruno bleiben im Gedächtnis. Wenn sich Bruno und Jette ganz leise fragen, ob es für sie auch ein "normales" Leben gibt, hat man als Zuschauer schnell einen Kloß im Hals. Die letzte Stunde war ganz groß - ergreifend. Da hat man gespürt, was für ein Juwel das Ohnsorg in der Hamburger Theaterlandschaft ist.