Schulprojekt zum "Mauerschützen-Prozess" auf Rügen gestrichen

Stand: 29.02.2024 09:06 Uhr

Ein Gymnasium auf Rügen beendet die Zusammenarbeit mit dem Historiker Roman Grafe, der jahrelang Rollenspiele zum Thema "Mauerschützenprozesse" organisierte. Grafes Verdacht: Ein Lehrer, der am letzten Rollenspiel teilnahm und selbst DDR-Grenzsoldat war, habe für die Ausladung gesorgt. Die Schule widerspricht.

von Heiko Kreft

Seit 2009 gibt es am Bergener Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium auf Rügen einmal im Jahr eine Schulprojektwoche zur DDR-Geschichte. Roman Grafe organisierte zwölf Jahre unter anderem Rollenspiele zum Thema "Mauerschützenprozesse". Nun wurde er ausgeladen. Der Vorwurf: Er unterrichte unausgewogen. "Was absurd ist", so Roman Grafe, "weil das Wesen eines solchen Rollenspieles in einem 'Mauerschützenprozess' eben genau das ist. Aus verschiedenen Perspektiven wird der Konflikt um die Tötung eines DDR-Flüchtlings betrachtet. Die verschiedenen Rollen übernehmen Schüler, Gerichtsprozessvertreterrollen, und dann finden sie zu ihrem eigenen Urteil. Was auch über hundert Mal in Deutschland zwischen Greifswald und Freiburg im Breisgau und Hamburg und Dresden sehr gut geklappt hat."

Weitere Informationen
Lange Autoschlangen von reisenden DDR-Bürgern stehen am 10.11.1989 am Grenzübergang Helmstedt-Marienborn. © picture alliance / ZB | Bernd von Jutrczenka Foto: Bernd von Jutrczenka

Grenzgeschichten: Vom Priwall zum Harz

Eine Sprache, zwei Systeme - das war deutscher Alltag vor 1989. Besonders in den Grenzgebieten prägte die Teilung das Leben. Wie geht es den Menschen dieser Regionen heute? mehr

Verantwortung von DDR-Grenzsoldaten im "Kalten Krieg"

In der Wochenzeitung "Die Zeit" machte er seinen Fall nun selbst öffentlich und äußert einen Verdacht: Ein Lehrer, der am letzten Rollenspiel teilnahm und selbst DDR-Grenzsoldat war, habe für das Ausladen gesorgt, so Grafe. Es sei zum Disput zwischen ihm und dem Lehrer gekommen.

Kernfrage dabei: Wieviel individuelle Verantwortung hatten DDR-Grenzsoldaten? Roman Grafe hat da eine klare Haltung: "Es geht darum, dass klar gestellt wird, dass die Todesschüsse an der DDR-Grenze Verbrechen waren und dass alle die, die dieses Regime des Grenzregimes DDR unterstützt haben, als Grenzsoldaten zuallererst und als Offiziere natürlich auch, dass die mitverantwortlich sind für das Unrecht der DDR und dass man das nicht zu verklären habe."

Wie weit darf DDR-Aufarbeitung gehen?

Verstößt diese Sicht gegen einen "ausgewogenen" Geschichtsunterricht? Die Grenztruppen der DDR standen im Kalten Krieg an der sogenannten "Systemfront", sollten den Sozialismus vor dem "Klassenfeind" schützen. Sie sollten aber auch die Flucht der eigenen, eingesperrten Bürger verhindern. Auch dafür galt der Schießbefehl.

Als Machtinstrumente der Arbeiterklasse verfügen die Grenztruppen heute über die erforderliche Bewaffnung und Ausrüstung für den Schutz unserer Staatsgrenze unter komplizierten Lagebedingungen. Aus einem Bericht des DDR-Fernsehens 1981

Bei Fluchtversuchen von Ost nach West starben etwa 300 Menschen.

Weitere Informationen
In Gedenken an die Opfer der DDR werden Blumen niedergelegt. © Screenshot

Schwerin: Gedenken an Opfer der innerdeutschen Grenze

Die Veranstaltung hat am Demmlerplatz in Schwerin stattgefunden. Anlass war der 62. Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1961. mehr

Spannungsfeld zwischen persönlichem Erleben und wissenschaftlichen Erkenntnissen

Ein "ausgewogener Umgang" mit Todesschüssen - für den Geschichtsunterricht ist das eine Herausforderung. Sagt Jochen Schmidt von der Landeszentrale für politische Bildung in Mecklenburg Vorpommern: "Wir haben es mit moralisch aufgeladenen Materie zu tun. Wir haben mit vielen Zeitzeugen zu tun und mit vielen Menschen, die darüber noch aus eigenem Erleben berichten können. Und wir haben wissenschaftliche Erkenntnisse, die wir natürlich auch zur Kenntnis nehmen müssen. Das ist das Spannungsfeld, was immer existiert, wenn wir es in der Bildungsarbeit mit Zeitgeschichte zu tun haben."

Debatte um Verantwortung und angemessenen Geschichtsunterricht

Mit welchen Aussagen Roman Grafe bei seinem Projekt am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium unausgewogen war, Schulleiter Christoph Racky möchte das nicht konkret benennen - auch auf Nachfrage nicht. Dem NDR teilt er schriftlich mit, das Ausladen Grafes sei die "kollektive Entscheidung" eines Schulgremiums gewesen. Gästeeinladung und -bewertung sei allein Sache der Schule. Das Thema gehöre nicht in die Öffentlichkeit.

Schulleiter Christoph Racky kritisiert Roman Grafe: "Im Sport nennt man dies 'Nachtreten'. Dafür gibt es dann die rote Karte. Hier erhält stattdessen jemand, der es nicht verdient, mediale Aufmerksamkeit. Es dürfte ihn ermuntern, zukünftig in ähnlicher Weise vorzugehen. Insofern halte ich weder den Beitrag in der Wochenzeitung "Die Zeit", aber auch den Beitrag des NDR für nicht geeignet, diese Problematik angemessen darzustellen." Die Debatte um die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze, die Debatte um Verantwortung und angemessenen Geschichtsunterricht - fast 35 Jahre nach dem Mauerfall geht sie weiter.

Weitere Informationen
Ein Grenzsoldat trägt den bei seinem Fluchtversuch an der Berliner Mauer erschossenen Peter Fechter am 17. August 1962 davon. © picture alliance Foto: picture alliance

Peter Fechter: Der tödliche Traum von der Freiheit

1962 erschießen DDR-Grenzsoldaten den 18-Jährigen bei seinem Fluchtversuch. Fechter verblutet. Am 14. Januar wäre er 80 Jahre alt geworden. mehr

Zwei Männer mit Bier sitzen vor einem Gasthaus (Archivbild)

Panorama vom 1. Oktober 1991

Solidarität mit Mauerschützen; Stasi-Offiziere als Unternehmer; Dopingsünden; Dioxin in Lebensmitteln; Verteidigungsetat; mehr

Am Berliner Wedding in der Bernauer Strasse stehen Volkspolizisten am 13. August 1961 mit Gewehren im Anschlag hinter einer Strassensperre aus Stacheldraht. © picture alliance / Konrad Giehr Foto: Konrad Giehr

Erst Stacheldraht, dann Beton: Der Bau der Mauer

Die DDR beginnt am 13. August 1961 mit der Abriegelung der Grenzen innerhalb Berlins. Die Mauer besiegelt die Teilung. mehr

DDR -  Grenzbrigade Küste © picture-alliance/ ZB Foto: Hans Wiedl

Greifswalder Forschung zu Ostseefluchten gesichert

Das bislang vom Bund unterstützte Projekt bekommt nun 100.000 Euro vom Land, um die verbliebenen Fälle zu untersuchen. mehr

Marie-Luise Busse mit ihrer Mutter und den Geschwistern © NDR Screenshot

Aktion "Ungeziefer" 1952: Aus dem DDR-Grenzgebiet vertrieben

1952 wurden über 2.000 Menschen in Mecklenburg zwangsumgesiedelt. Auch Marie-Luise Busse verlor ihre Heimat für die Sperrzone. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | Kulturjournal | 29.02.2024 | 19:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Zeitgeschichte

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur sucht Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Ein Mann mit E-Gitarre und ein Schlagzeuger musizieren auf einer Bühne © NDR

Gerappt und gerockt: Biermann-Gala im Thalia Theater

Wolf Biermann neu vertont: Eine ungewöhnliche Release-Party feierte am Mittwochabend in Hamburg die Lieder des fast 88-Jährigen. mehr

Eine Hand hält ein Smartphone mit dem News-Spiel "NDR Wohn-O-Mat" vor einer norddeutschen Landschaft mit Schafen und Leuchtturm © Fotolia, PantherMedia Foto: JFL Photography, Peopleimages

NDR Wohn-O-Mat: Welcher Wohnort im Norden passt zu dir?