"Der Vorleser" im Altonaer Theater: Wenn Glück in Gewalt umschlägt
In "Der Vorleser" nach dem Roman von Bernhard Schlink geht es um Schuld und Sühne, um das Schweigen einer Generation und die Frage, wie man mit den Verbrechen der Vorfahren umgehen soll. Am Wochenende hatte das Stück am Altonaer Theater Premiere.
Diese Geschichte ist ein Drama, ist ein einziges Wechselbad von kalt zu heiß zu polarkalt. Der 15-jährige Schüler Michael Berg (Johan Richter) verliebt sich kurz nach Kriegsende in eine stahlharte Frau, eine Straßenbahnschaffnerin. Wenn Hanna (Anjorka Strechel) im Kreis marschiert um die offene Bühne herum, auf der einige Tische stehen, über der ein Duschkopf von der Decke hängt, läuft es einem kalt den Rücken hinunter. Denn, was Michael noch nicht weiß: Sie war in der SS, in einem KZ beim Wachpersonal.
Affäre zwischen 15-Jährigem und ehemaliger KZ-Aufseherin
Michael und Hanna beginnen eine Affäre. Gut, dass im Programmheft darauf hingewiesen wird, dass die Beziehung einer erwachsenen Frau zu einem 15-jährigen Schüler unter sexuellen Missbrauch fällt. Für falsche Romantik ist hier kein Platz. Mit einem Mal schwenkt die Geschichte in eine andere Richtung. Hanna hat offenbar mehr Lust auf Literatur als auf Sex und verlangt von Michael, dass er ihr vorliest. Die beiden haben Glücksmomente. Ein Glück, das aber auch urplötzlich in Gewalt umschlägt. Ein Zuschauer lobt die Vielschichtigkeit des Stücks: "Man weiß nie so genau, wer ist böse und wer ist gut. Jedes Mal, wenn man sich festgelegt hat, kommt eine neue Information, die alles wieder über den Haufen wirft."
Ambivalenz einer abgrundtiefen Geschichte
Das Publikum ist am Ende des Stücks begeistert, lobt die Kurzweiligkeit des Stücks, die guten Schauspieler, das Bühnenbild und wie Schauspieler Johan Richter den inneren Zwiespalt des Hauptprotagonisten Michael verkörpert. Johan Richter merkt man beim Schlussapplaus im Altonaer Theater die Rührung an. Anjorka Strechel darf endlich befreit lächeln nach zwei Stunden Härte im Gesicht. Genauso fabelhaft wie die zwei ist ein dreiköpfiger Sprechchor. Er hat das Erzähler-Ich auf mehrere Schultern verteilt.
Dass Hanna sich von Michael vorlesen lässt, hat eine monströse Vorgeschichte, die einem den Atem raubt, damals im KZ. Johan Richter glaubt man jede Regung, er spielt einfach großartig. Regisseur Kai Hufnagel erzählt die schwere Geschichte luftig, offen, ohne sie plakativ zu überzeichnen. Wenn Hanna und Michael nackt unter der Dusche stehen, wird aus Erotik eine Assoziation an Gaskammern. Der hochkonzentrierte Theaterabend zeigt die ganze Ambivalenz dieser abgrundtiefen Geschichte und stellt die eine Frage: Was hättest du getan?