"Anna Karenina" in Moskau: Warum John Neumeier zugestimmt hat
John Neumeier hat entschieden: Das Bolschoi-Theater in Moskau darf sein Ballett "Anna Karenina" als Wiederaufnahme spielen. Unter dessen aktuellem Direktor hätte der Choreograf das Stück jedoch nie nach Moskau gegeben - die Verträge seien aber schon unter dessen Vorgänger geschlossen worden.
Ein Politiker sorgt sich um seinen Ruf, die Fassade, der schöne Schein muss gewahrt werden, seine Frau aber geht einen eigenen Weg. Das ist die Geschichte von "Anna Karenina", die John Neumeier 2017 als Ballett in Hamburg auf die Bühne gebracht hat. 2018 feierte das Stück am Bolschoi-Theater in Moskau Premiere. Das Stück holt den Tolstoi-Roman aus dem 19. Jahrhundert in die Gegenwart. Die Tänzer erzählen von Mechanismen der Macht und gesellschaftlichen Zwängen in Russland damals und heute.
Wladimir Urin: Entlassung nach Kritik an Russlands Angriffskrieg
Vor Kurzem hat Neumeier zugestimmt, dass das Bolschoi-Theater sein Stück drei Mal zeigen darf. Dessen Generaldirektor Valery Gergiev gilt als Anhänger Putins. Er war Chefdirigent der Münchner Philharmoniker und musste dort 2022 seinen Posten räumen, weil er sich nicht vom russischen Angriffskrieg distanzierte. Letztes Jahr wurde Gergiev zum Generaldirektor des Moskauer Theaters ernannt. Sein Vorgänger, Wladimir Urin, wurde entlassen, weil er in einem offenen Brief den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verurteilt hatte.
In einem Statement gegenüber dem NDR bringt Neumeier zum Ausdruck: Er hätte "Anna Karenina" nie unter dem aktuellen Direktor des Bolschoi-Theaters, Valery Gergiev, nach Moskau gegeben. Die Verträge seien aber schon unter dessen Vorgänger Urin geschlossen worden. "Ich habe sehr bewusst die Aufführungsrechte gerade von 'Anna Karenina' an sein Haus gegeben", schreibt Neumeier. "Wladmir Urins Mut, sich offen gegen den Ukraine-Krieg auszusprechen, verdient höchste Bewunderung. Man muss davon ausgehen, dass seine Haltung dazu geführt hat, dass er das Bolschoi-Theater verlassen musste."
"Anna Karenina steht für das freie Denken"
Neumeiers Entscheidung, der Wiederaufnahme zuzustimmen, hat für Diskussionen gesorgt. Hat sich der Choreograf von Putin instrumentalisieren lassen? Schon Anfang Februar meinte Neumeier dazu: "Dieses Werk verkörpert alles, was gegen dieses Regime ist. Es ist das Werk eines geborenen Amerikaners, der homosexuell ist, der kein Geheimnis daraus macht, auch in Russland nicht. Es ist die Interpretation eines Fremden von einem klassischen russischen Stoff, was von der Regierung im Grunde genommen verboten ist." Er hofft, dass das Stück mit seinen Inhalten nun genau am richtigen Ort zur richtigen Zeit platziert ist.
Glaubt Neumeier, dass er mit seiner Interpretation von "Anna Karenina" etwas in Russland bewegen kann? NDR Theaterkritiker Peter Helling meint: ja. "Das Stück handelt von einer Frau, Anna Karenina, deren Mann für die Politik steht, für die kalte Macht", so Helling. "Sie steht für das freie Denken - dafür, frei lieben und leben zu können, wie man möchte. Ich denke, John Neumeier will genau diese Botschaft platzieren."
"In Diktaturen können Theaterstücke zum Nachdenken bewegen"
Helling, der vor ein paar Jahren selbst das Moskauer Theaterpublikum erlebt hat, schätzt es als aufgeschlossen und neugierig ein. Trotzdem hat er auch Bauchschmerzen, wenn das Stück wie geplant in drei Aufführungen über die Bühne des Bolschoi-Theaters geht: "Seit dem Tod von Alexej Nawalny hat sich die Situation noch einmal verschärft, weil sich das Regime in seinem brutalen Charakter so deutlich gezeigt hat. Ich frage mich, ob Kunst wirklich stark genug ist, um dem irgendwas entgegenzusetzen."
Naiv sei Neumeier aber nicht, so Helling. "John Neumeier ist ein hochintelligenter Künstler, der genau weiß, was er tut. Ich glaube, aus seiner Entscheidung spricht wirklich sein Idealismus und sein Verständnis, dass Kunst etwas bewegen kann. Das können wir uns schwer vorstellen, bei uns gehören Kunst, Theater und Tanz zum Alltag. Das provoziert mal, das kitzelt mal, das fordert mal heraus. Aber in Diktaturen, was ja Russland mittlerweile ist, können Theaterstücke wirklich zum Nachdenken bewegen."