"Anna Karenina" am Bolschoi-Theater: Wird John Neumeier zum Spielball Putins?
Der Choreograf John Neumeier hat der Wiederaufnahme seiner Interpretation von "Anna Karenina" im Moskauer Bolschoi-Theater zugestimmt. Für die Tanzkritikerin Dorion Weickmann ist das ein "subversiver Akt".
Das Bolschoi in Moskau ist das Traditionshaus für klassisches Ballett und ein Aushängeschild von Putins Kulturpolitik. Anfang März wird dort "Anna Karenina" zu sehen sein - in einer Interpretation von John Neumeier, dem Direktor des Hamburg Balletts. Das Stück feierte bereits 2018 in Moskau Premiere. Trotzdem musste Neumeier der Wiederaufnahme zustimmen.
Gegenüber dem NDR hat er seine Entscheidung so begründet: "Dieses Werk verkörpert alles, was gegen dieses Regime ist. Es ist das Werk eines geborenen Amerikaners, der homosexuell ist, der kein Geheimnis daraus macht, auch in Russland nicht. Es ist die Interpretation eines Fremden von einem klassischen russischen Stoff, was von der Regierung im Grunde genommen verboten ist. Man darf diese Stücke nicht anders interpretieren." John Neumeier will also "humanistische Werte" vermitteln. Trotzdem stellt sich die Frage, ob er sich von Putins Regime nicht instrumentalisieren lässt.
Ein Gespräch mit Dorion Weickmann, Tanzkritikerin und Chefredakteurin des Fachmagazins "Tanz".
Frau Weickmann, viele internationale Choreografen und Rechteinhaber lassen ihre Lizenzen auslaufen, was Russland angeht. Was denken Sie, warum zieht Neumeier da nicht mit? Warum distanziert er sich nicht?
Dorion Weickmann: John Neumeier hat mitgezogen - er hat nämlich im vergangenen Jahr seine "Kameliendame" aus dem Bolschoi zurückgezogen. Er hat auch schon 2022 sehr deutlich Stellung gegen Putin und den Krieg bezogen. Neumeier ist ein erklärter Gegner dieses Kriegs und auch ein erklärter Gegner dieses Regimes. Er hat sich aber ganz offenkundig an dieser Stelle mit Bedacht entschieden, seine "Anna Karenina" freizugeben. Wenn man sich dieses Stück anschaut, dann versteht man auch, warum. Ich war auch erst einmal erstaunt, als ich das hörte, habe aber dann überlegt, wie dieses Stück gebaut ist, worum es geht. Es ist 2017 in Hamburg uraufgeführt worden, und zwar vor dem Hintergrund der ersten Wahl von Donald Trump. John Neumeier hat im Grunde genommen die "Anna Karenina"-Erzählung in die Gegenwart verlegt, und zwar in ein genauso machthaberisches Regime, wie es Trump am liebsten in den USA errichtet hätte und wie es Putin in Russland errichtet hat. Wer dieses Stück zu lesen weiß, so wie Neumeier es inszeniert, für den ist es absolut triftig, dass es genau die Werte verkörpert, gegen die Putin und seine Leute permanent verstoßen.
Trotzdem ist John Neumeier ein großer Name. Könnte es Putin trotzdem gelingen, sein Volk ein bisschen zu überzeugen, dass der Westen sich mit der russischen Kultur verbünden möchte, wenn man sich nicht ganz so genau damit befasst?
Weickmann: Ich glaube, dass es vollkommen gleichgültig ist, weil dermaßen viele Choreografien aus dem Westen am Bolschoi gespielt werden - das ist unglaublich. Ich habe mich gerade selber etwas ausführlicher mit dieser Thematik befasst und dabei festgestellt, dass es ganz schön viele West-Choreografien gibt, die dort nach wie vor laufen, und zwar sowohl am Bolschoi als auch im Mariinski in Sankt Petersburg. Einige Choreografen haben diese zurückgezogen, und sie werden trotzdem gespielt. Ich glaube, dass es dort überhaupt kein Thema ist, ob die Leute dem zustimmen oder nicht - es wird einfach gemacht. Das geht aus urheberrechtlicher Sicht für uns überhaupt nicht, aber ich glaube, für den Bolschoi und für Russland kommt es überhaupt nicht darauf an.
Insofern ist es klug von John Neumeier, das zu nutzen, um seine Werte noch deutlicher zu machen?
Weickmann: Ja, das würde ich sagen. Ich finde, das ist ein echt subversiver Akt. Ob der verstanden wird, ob er die Adressaten und Adressatinnen erreicht, die er erreichen soll, das ist eine andere Frage. Aber grundsätzlich kann ich die Argumentation gut nachvollziehen.
Das Hamburg Ballett schreibt in einer Pressemitteilung, dass die Tantiemen aus den Aufführungen gespendet werden sollen. Wie ist das zu bewerten?
Weickmann: Wenn Neumeier so etwas sagt, dann tut er das auch. Er ist keiner, der irgendetwas erzählt und dann etwas ganz anderes macht. Ich halte ihn da für total glaubwürdig.
Also großer Respekt von Ihnen für John Neumeier, das so zu tun und deutlich zu machen, dass es da um etwas ganz anderes geht?
Weickmann: Ich habe davor auf jeden Fall Respekt. Ich finde, die ganze Lage in Russland ist sehr viel komplexer, als wir es uns vorgestellt haben. Auch ich war der Meinung, dass alles an West-Choreografie raus soll. Ich sehe aber, dass es überhaupt nicht stimmt, genauso wenig, dass es keine westlichen Tänzer mehr dort gäbe - auch die gibt es. Es gehen auch noch neue Tänzer dorthin. Es ist interessant, wie man auf diesem Gebiet die ganze Verworrenheit der politischen Lage abgebildet kriegt, wenn man genauer hinschaut. Wenn man sich die Spielpläne anschaut, die übrigens immer noch übers Netz gut nachvollziehbar sind, ist man erstaunt, wer in Russland alles gespielt wird.
Das Interview führte Philipp Schmid.