"Wir sehen uns im August": Aus dem Nachlass von Gabriel García Márquez
Gabriel García Márquez ist ein faszinierendes Psychogramm einer reifen Frau gelungen, die ihre vermeintlich perfekte Ehe kritisch sieht und beschließt, einmal im Jahr mit einem anderen Mann zu schlafen.
Vor zehn Jahren starb der kolumbianische Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez. Nun erscheint ein neues Buch von ihm, ein Kurzroman. Mehrfach hat er daran gearbeitet und, weil er unzufrieden mit dem Text war, beiseite gelegt, um sich anderen Schreib-Projekten zu widmen. Als García Márquez 2010 die Arbeit an diesem Buch wieder aufnehmen wollte, war seine Demenz schon zu weit fortgeschritten. Zuvor hatte er seinen beiden Söhnen gesagt, sie sollten diesen Text nach seinem Tod auf keinen Fall veröffentlichen. Die haben sich über den Willen ihres Vaters hinweggesetzt.
"Ich freue mich, dass man in einer kurzen Fassung, ohne sich als neuer Leser durch das ganze Werk wühlen zu müssen, mitkriegt, was er als Schriftsteller alles drauf hatte", sagt Dagmar Ploetz, die deutsche Übersetzerin von Gabriel García Márquez, über seinen postum erschienenen Kurzroman "Wir sehen uns im August".
Unkonventionelles Glück auf der Insel
An jedem 16. August, dem Todestag ihrer Mutter, fährt die Lehrerin Ana Magdalena Bach mit der Fähre vom Festland zu einer Insel in der Karibik, um auf dem dortigen Friedhof das Grab ihrer Mutter zu besuchen. In einem Hotel der Insel verbringt sie eine Nacht.
Vor der Schlange der Taxis am Kai steuerte sie direkt auf ein altes, vom Meersalz angefressenes Modell zu. Der Chauffeur begrüßte sie wie ein alter Freund und fuhr sie holpernd durch den ärmlichen Ort mit seinen Häusern aus Rohr und Lehm, den mit Palmwedeln gedeckten Dächern und dem glühenden Sand der Straßen vor einem Meer in Flammen. Leseprobe
Wunderbar atmosphärisch lässt Gabriel García Márquez "Wir sehen uns im August" beginnen. Der 46 Jahre alten Ana Magdalena Bach fällt in der Bar eines Hotels ein Mann auf. Der Frau, die bis dahin nur mit ihrem Ehemann Sex hatte, nimmt den Fremden mit auf ihr Zimmer.
Nie wieder würde sie dieselbe sein. Diese Ahnung überkam sie bei der Rückfahrt auf der Fähre, zwischen den Horden von Touristen, die ihr stets fremd geblieben waren und die sie plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, abscheulich fand. Leseprobe
Ihre vermeintlich perfekte Ehe sieht sie nun kritisch, wendet sich gegen diese Form des konventionellen Glücks und beschließt insgeheim, jeden August nicht nur das Grab ihrer Mutter zu besuchen, sondern auf der Insel auch mit einem jeweils neuen Mann zu schlafen.
Faszinierendes Psychogramm einer reifen Frau
Die beiden Söhne von García Márquez schreiben im Vorwort, ihr Vater habe verlangt, diesen Text zu vernichten. Fragt sich also, ob es moralisch zu vertreten ist, das Buch trotzdem zu veröffentlichen. "Es ist natürlich ein bisschen prekär für die beiden Söhne, die das gemacht haben", findet Dagmar Ploetz. "Aber die bringen ja als Argument: Wenn der Leser sich freut, dann wird ihnen der Vater wohl auch verzeihen. Und ich glaube, der Leser freut sich."
Es ist eine herausragend gut geschriebene, dicht erzählte, sehr literarische Geschichte über Liebe, Betrug und den Bruch von Konventionen. Das faszinierende Psychogramm einer reifen Frau, die sich neu erfindet. Ihr eigenes Geheimnis weckt ihr Misstrauen gegenüber dem Ehemann - zurecht.
"Wir sehen uns im August": Ein musikalisches Buch
Dagmar Ploetz gelingt es in ihrer einfühlsamen Übersetzung, etwas von der Musikalität des spanischen Originals einzufangen. Überhaupt ist "Wir sehen uns im August" ein musikalisches Buch. Ana Magdalena Bach, Tochter, Frau und Mutter jeweils eines Musikers, trägt nicht zufällig den Namen von Johann Sebastian Bachs zweiter Ehefrau. Nicht zuletzt durch den Einfluss der Musik begeht sie einmal im Jahr Ehebruch auf der Insel. Bis sie auf dem dortigen Friedhof über ihre Mutter eine erstaunliche Entdeckung macht, die diese bestechende Geschichte in einen spektakulären Schluss münden lässt.
Wir sehen uns im August
- Seitenzahl:
- 144 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Kiepenheuer & Witsch
- Bestellnummer:
- 978-3-462-00642-1
- Preis:
- 23 €