Gabriel Garciá Márquez © picture alliance / dpa Foto: Mario Guzman

"Der Herbst des Patriarchen" von Gabriel García Márquez

Stand: 04.01.2016 10:53 Uhr

"Der Herbst des Patriarchen" ist wohl Márquez' kühnster, reifster und komplexester Roman. Man kann den Roman als Anklagerede und Trauerlitanei lesen, aber auch als Text über die Einsamkeit der Macht

von Hanjo Kesting

Als Gabriel García Márquez im April 2014 im Alter von 87 Jahren starb, wurde er in den Nachrufen weltweit als größter Schriftsteller seiner Epoche bezeichnet, als Mythenstifter und literarischer Revolutionär. Dass Literatur eine Neuerschaffung der Welt sein kann, bei García Márquez konnte man es noch einmal erleben. Er hat die Weltliteratur gleich um ein halbes Dutzend großer Romane bereichert, von denen "Der Herbst des Patriarchen" wahrscheinlich sein kühnster, reifster und erzählerisch komplexester ist. Er wurde 1975 publiziert und stellte den vorläufigen Schlusspunkt unter einem literarischen Genre dar: dem lateinamerikanischen Diktatorenroman.

Abgesang auf die Gattung des Diktatorenromans

Diktatoren oder Caudillos haben in unterschiedlichen Ausprägungen die Geschichte des ganzen Kontinents bestimmt, und zwar so tiefgreifend, dass sich um sie eine besondere Aura, ja eine eigene Mythologie gebildet hat. Immer wieder wurden sie zum Gegenstand großer Literatur. "Der Herbst des Patriarchen" von García Márquez stellt bereits einen Abgesang dieser Gattung dar. Jedes der sechs Kapitel des Buches, in dem ohne chronologische Ordnung die Geschichte eines fiktiven Landes am Rande der Karibik erzählt wird, beginnt mit dem Tod des Diktators, dessen Alter niemand kennt, nicht einmal er selbst, denn er ist so alt, dass er als einziger Lebender den Halleyschen Kometen, der alle sechsundsiebzig Jahre wiederkehrt, zweimal, oder sogar dreimal, gesehen hat.

Buchcover: Gabriel García Márquez - Der Herbst des Patriarchen © S. Fischer Verlag
AUDIO: Gabriel García Márquez "Der Herbst des Patriarchen" (4 Min)

Dieser Diktator verkörpert das Prinzip der Herrschaft und der Macht überhaupt, aber auch die Geschichte seines Kontinents seit Simon Bolívars Befreiungskriegen, ja selbst von Columbus an. Er ist ein Mann aus dem Volk, ein Revolutionär seinen Ursprüngen nach, im Laufe der Zeit durch die Macht deformiert, schließlich ein Gefangener der eigenen Macht in einer selbstgeschaffenen Welt der Lügen und Intrigen, einsam und verlassen in seinem verrottenden Palast, zwischen Hühnern, Kühen und Lakaien wie einst Romulus, der letzte Kaiser von Rom. Alle seine Reichtümer hat er im Laufe seiner endlosen Herrschaft an den großen Nachbarn im Norden abgetreten, und als es nichts mehr gibt, womit die Auslandsschulden bezahlt werden können, verkauft er auch noch das karibische Meer, das stückweise nach Arizona abtransportiert wird, eine Wüste von Staub zurücklassend, wo einmal die karibische See leuchtete."

Die Handlung von "Der Herbst des Patriarchen"

García Márquez führt uns in eine Alptraumwelt, die beschrieben wird in einer unerhört dichten, gegenständlichen, detailgesättigten Sprache, die mit ihrem breit fließenden, beharrlich kreisenden Imperfekt den Leser in einen Malstrom aus Wörtern, Sätzen und Bildern hineinzieht. Es sind viele Stimmen, die sich ablösen, überlagern, polyphon zusammenklingen, die Gesetze von Raum und Zeit aus den Angeln heben, auch wenn es sich auf den ersten Blick nur um eine Stimme zu handeln scheint, jene feste, kraftvolle, ruhig fließenden Erzählerstimme, in der alle anderen Stimmen sich wie in einem großen Chor vereinigen.

Man kann den Roman als Anklagerede und Trauerlitanei lesen, über weite Strecken auch als Roman über die Einsamkeit der Macht. Endlich meint man zu begreifen, dass der Staatenlenker auch als Weltenlenker verstanden werden kann, dass der Patriarch zugleich Gott ist, seine Ewigkeit die Ewigkeit Gottes, und dass das Reich der Freiheit, dass die Unterdrückten ersehnen, erst kommen kann, wenn alle Herrschaft endet, die menschliche wie die göttliche. Der Tod des Patriarchen ist das "Ende der Schöpfung", insofern sie göttlich ist; mit seinem Tod erst kann sie menschlich werden. Zurück bleiben die, die den toten Diktator und den toten Gott überleben, das Volk, die Armen, die Unterdrückten, deren Stimmen sich zuletzt - am Schluss des sechsten Kapitels, das aus einem einzigen, über fünfzig Seiten langen Satz besteht - zu einem "Wir" vereinigen, das vom Tyrannen glücklich Abschied nimmt.

Weitere Informationen
Buchcover: Charles Dickens - Große Erwartungen © Suhrkamp Verlag

Die großen Romane im Überblick

Hanjo Kesting streift durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. Und wählt seine persönlichen 25 Klassiker aus - hier die Übersicht. Bildergalerie

Antike Bücher © Fotolia.com Foto: LeitnerR

Große Romane der Weltliteratur - Staffel 1

Hanjo Kesting streift durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. 25 Klassiker, die nicht nur spannend sind, sondern auch Leselust garantieren. mehr

Der Rokokosaal in der sanierten Herzogin Anna Amalia Bibliothek © dpa

NDR Kultur Wissen

Wissenswertes aus Musik, Politik und Zeitgeschehen präsentieren wir Ihnen in unseren Wissensreihen. Hier finden Sie einen Überblick. mehr

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur Wissen | 26.01.2016 | 09:20 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Bücher 2024: Das waren die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gab es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Simone Paganini, italienischer Theologe © Vandory

Von wegen Heilige Nacht! Simone Paganini widerlegt die Weihnachtsgeschichte

Der katholische Theologe macht einen Faktencheck und zeigt: An der Weihnachtsgeschichte ist so gut wie nichts wahr. mehr