Cover Samantha Harvey, "Umlaufbahnen“ © dtv

"Umlaufbahnen": Ein Blick in die Köpfe von Astronauten

Stand: 21.11.2024 06:00 Uhr

Dieser brillante Roman von Samantha Harvey - ausgezeichnet mit dem Booker Prize 2024 - ist gleichzeitig von Stille und einer dröhnenden Kraft durchzogen. Eine Handlung gibt es nicht, nur den Blick in die Köpfe der Protagonisten.

von Peter Helling

Samantha Harvey begleitet sechs Astronauten an einem Tag im All. Zwei Frauen und vier Männer - zwei von ihnen sind genau genommen russische Kosmonauten - sind auf einer Raumstation, vergleichbar mit der ISS, obwohl die hier nie genannt wird. Es ist still hier oben, zwischen Erdball und Unendlichkeit.

Sie hängen in ihren Schlafsäcken. Eine Handbreit von ihnen entfernt, hinter einer Haut aus Metall, entfalten sich die schlichten Ewigkeiten des Universums. Leseprobe

Hier geraten nicht nur die Protagonisten, ihre Zahnbürsten oder Schokoladenreste ins Schweben. Der Roman selbst beschreibt einen feinen Gravitationsverlust. Ein Tag auf der Station, 400 Kilometer über der Erdoberfläche, 27.000 Kilometer die Stunde auf einer Umlaufbahn. Das bedeutet 16 Sonnenauf- und -untergänge. 16 mal Tag, 16 mal Nacht. Die Zeit ist aus den Fugen, die Sechs müssen sich, um nicht durchzudrehen, immer wieder versichern: Ein Tag auf der Erde hat 24 Stunden.

AUDIO: Booker Prize: Britische Schriftstellerin Samantha Harvey gewinnt (4 Min)

Flashbacks, Alpträume und Naturdramen

Dieser brillante Roman ist gleichzeitig von Stille und einer dröhnenden Kraft durchzogen. Bei aller Stille ist er aber nicht leise: Die Astronauten beobachten die Erde, sie erleben dabei Flashbacks, Alpträume, als wären ihre Gedanken selbst ohne Gewicht. Chie aus Japan etwa erfährt, dass ihre Mutter gestorben ist. Als ihre Raumstation über ihr Land fliegt, muss sie an sie denken, es wirkt wie ein Kindheitstraum.

Der Leichnam wurde von den Stufen entfernt. Das Haus ist verlassen. Von dem unsichtbaren Licht am trüben Abendhimmel aus gesehen, auf dem die Tochter der Frau stationiert ist, gleitet Asien Richtung Steuerbord außer Sicht. Leseprobe

Alles kreist, das Drama geschieht unmerklich. Vor den Philippinen türmt sich ein gewaltiger Taifun. Es ist beklemmend und atemberaubend zu lesen, mit anzusehen, wie der tödliche Wirbel, riesenhaft, beinahe ein Monstrum, zuschlagen wird.

Die Menschheit wird zur Fiktion

Zwischen dem "da draußen" und hier ist eine Mauer aus Titan, und dort zeigt sich ein haarfeiner Riss. Samantha Harvey schreibt einen Roman über einen höchst labilen Zustand: Die Sechs werden zum Abbild der Menschheit, in ihrer Vielfalt und Verunsicherung, den Blick auf die Schönheit der Erde gerichtet.

Handlung gibt es nicht, nur den Blick in die Köpfe der Astronautinnen und Astronauten. Der Roman ist auch einer über das Sehen. Besonders beeindruckend: Erst wenn die Nacht über die Erde zieht, wird menschliche Existenz mit bloßem Auge sichtbar, Lichtermeere, diamanthaft glitzernde Küsten. Bei Tag wirkt der Planet menschenleer, wird die Menschheit zur Fiktion.

Das Leben in einer Metallkapsel

Samantha Harvey schreibt kein philosophisches Traktat, wird nie elegisch. Es geht auch um den Alltag an Bord, um Experimente an Mäusen und Pflanzen, um die schneller alternden Körper. Die Sprache ist unpathetisch, dicht, auch in der Übersetzung von Julia Wolf. Es geht um die feine Schicht Leben in einer Metallkapsel, im Rücken das Weltall. Man meint den Riss zu hören. Und die Erde wird zum Spiegel, blickt stumm zurück.

Umlaufbahnen

Seitenzahl:
224 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Englischen von Julia Wolf
Verlag:
dtv
Preis:
22 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 21.11.2024 | 12:40 Uhr

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Romane

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