Roman "Zuleika": Mutiges Anti-Epos von Bernardine Evaristo
Die Booker Preis-Gewinnerin Bernardine Evaristo hat sich vorgenommen, in jedem Buch etwas zu riskieren. "Zuleika" ist bereits vor über 20 Jahren erschienen und ist nun in deutscher Übersetzung zu haben.
Als Bernardine Evaristo 2019 den Booker Preis gewann, als erste Schwarze Autorin überhaupt, sorgte das in Deutschland für große Überraschung. Bisher war nichts von dieser Autorin übersetzt worden. Auch das ausgezeichnete Buch "Girl, Woman, Other" kam bei uns erst 2021 unter dem Titel "Mädchen, Frau etc." in die Buchläden. Damit aber war klar, dass man diese britische Autorin unbedingt entdecken musste: Ihr Manifest, geschrieben 2021, wurde also gleich ins Deutsche übertragen. Vergangenes Jahr folgte ihr eigentlich 2013 erschienener Roman "Mr. Loverman" und jetzt geht man noch weiter zurück in der Bernardine-Evaristo-Schreib-Historie. "The Emperor’s Babe", ein Versepos, ist im Original schon vor über 20 Jahren erschienen.
"Zuleika": Eine Provokation der Tradition
Was soll denn das? Diese Autorin, die für ungemein gegenwärtige Themen und Texte bekannt ist, für politisch-engagierte Literatur, die einen packt, weil sie viel mit der eigenen Zeit, mit eigenen Verletzlichkeiten, Unsicherheiten zu tun hat, diese Autorin springt ins zweite nachchristliche Jahrhundert? Und erzählt in Versen? Ein Epos - quasi auf den Spuren von Vergil und Homer? Tut sie nicht. Also, tut sie schon - aber anders. Wenn dieses Buch ein Epos ist, dann ein Anti-Epos. Eine Provokation der Tradition. Personal, Ton, Takt unterlaufen die klassischen Muster:
Was waren alle neidisch auf mich, die bella negrita
aus einem Hinterzimmer an der Gracechurch Street,
die sich ’nen Patrizier aus Rom geangelt hat,
obwohl ihre Eltern übers Meer aus Khartum kamen,
ganz ohne glänzenden Thron und goldenes Heck,
stattdessen proppenvoll mit kotzenden Blagen
und Kühen, die ihnen dampfende Fladen
auf die nackten Füße kackten. So parfümiert
zogen sie nach Londinium ein, auf einem Esel,
mit schmalem Geldbeutel und fetten Träumen.
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Hier spricht: Zuleika. Eine junge Frau, oder besser: ein Mädchen, das mit elf Jahren verheiratet wird. Ein echter Glücksfall, der Mann ist Römer, und will sie trotzdem, diese schöne Schwarze ohne Geld, eigentlich ja noch ein wildes Kind, das bisher unbehelligt, mit nichts als einer Freundin durch die Straßen zog, jetzt aber das Haus nur noch auf einer Sänfte verlassen darf. Ein Glücksfall also immerhin für die Eltern - für das Mädchen, das sich nach der ersten gemeinsamen Nacht wie tot fühlt, nicht ganz:
Rund um das Hochzeitsbett flackerten Flammen.
Er drapierte mich, schälte die Schichten von mir ab
wie feuchte Rosenblätter, lutschte an meinen Zehen,
nannte mich mea delicia, spreizte mir die Beine
und hielt mir eine Kerze an die Vulva, bis die Flammen
drohten, als Schrei aus meinem Mund zu lodern,
aber da lag ja seine Hand.
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Evaristo mischt Tonspuren aus verschiedenen Jahrhunderten
Bernardine Evaristo springt hier tatsächlich ins zweite Jahrhundert nach Christus, Großbritannien steht unter römischer Herrschaft, Gewalt ist an der Tagesordnung und Migration schon damals: ein Normalfall. Überhaupt ist Evaristos "Londinium" immer auch das London unserer Zeit - was die Autorin und ihre famose Übersetzerin Tanja Handels in jeder Zeile hörbar macht: Pidgin- und Jugendsprache stoßen da auf Fetzen Latein, der Sound der antiken Villen "clashed" mit dem aus den Straßen der Gegenwart.
Diese Sprache ist nie fauler Kompromiss, nie scheinbar zeitlos oder bloß gemäßigt antiquiert. Es wirkt, als wären Tonspuren aus verschiedenen Jahrhunderten, verschiedenen Stadtvierteln übereinandergelegt - und mal wird die eine Spur hochgezogen, dann die andere. Das zweite Jahrhundert ist es nie ganz. Nie ganz hier und jetzt. Jeder Satz operiert im unheimlichen Grenzgebiet des Dazwischen - und das nicht bloß sprachlich. Evaristo arbeitet in diesem Versepos an den Grenzen von Räumen, Zeiten, Genres. Rom ist zu dieser Zeit Aggressor, wie es Großbritannien in der jüngeren Geschichte war - die imperiale Gewalt des römischen Reiches stößt einen direkt auf die koloniale Gewalt Großbritanniens. Von der Antike zu lesen, ohne an die Moderne zu denken: ausgeschlossen. Und auch die etabliere literarische Form wird nur genutzt, um das Etablierte aus den Bahnen zu werfen.
Er hat mir die Ilias von Homer zu lesen aufgedrängt,
die ich, ganz ehrlich, so richtig öde fand.
Nichts als Belagerung von Troja. Wen interessiert das?
Geht’s vielleicht noch altmodischer?
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Der Mut einer reifen Autorin
Das hier ist ein früher Text von Bernardine Evaristo. Ihr zweiter Roman. Aber der Mut, der aus ihm spricht, ist der Mut einer reifen Autorin. Einer, die sich vorgenommen hat, in jedem Buch etwas zu riskieren, in jedem Buch zu testen, was Literatur kann, und sich selbstbewusst der klassischen Mythen und Motive zu bemächtigen.
Zuleika
- Seitenzahl:
- 264 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Tanja Handels
- Verlag:
- Klett-Cotta
- Bestellnummer:
- 978-3-608-50238-1
- Preis:
- 25 €