Roman "Trügerische Anziehung": Ein Meisterwerk von Eshkol Nevo
Mit den Techniken des Thrillers geht Eshkol Nevo im Roman "Trügerische Anziehung" den Irrungen und Wirrungen von Verlust und Liebe nach. Er besteht aus drei lose miteinander verknüpften Geschichten.
Im Original hat Nevo diesen Roman mit: "A man enters an orchard" überschrieben. Dem israelischen Publikum, das den Bestseller las, war dieser lakonische Satz in seiner bedrohlichen Doppeldeutigkeit selbstverständlich, denn: "Es ist ein physischer Obstgarten", erklärt der Autor. "Konkret sind das Bäume mit Früchten, aber es ist auch ein metaphorischer Obstgarten. Denn auf Hebräisch ist das Wort 'pardés' mit dem Talmud und dem Konzept des Gartens Gottes verbunden."
So wie Gan Éden - das Paradies. "Wenn ein Mann in einen Obstgarten kommt, betritt er auf gewisse Weise auch eine mystische Zone", sagt Nevo. Verlockend und bedrohlich. Diese Unschärferelation betritt der Schriftsteller in allen drei Geschichten. Er lotet die äußerliche Ebene der menschlichen Wahrnehmung aus, die erotische Anziehung, die eine Frau auf Hochzeitsreise in Bolivien auf Omri, einen jungen Israeli, ausübt, der sich Klarheit über die Zukunft seiner erstarrten Ehe erhofft und dabei Zeuge einer Tragödie - vielleicht aber auch eines Mordes - wird.
Sie verlor kein Wort darüber, dass der Weg auf beängstigende Weise schmal war und ohne Leitplanke, und dass sie sich alle erdenkliche Mühe gab, nur nach vorn und nach links zu schauen, um nicht rechts in die tiefe Schlucht sehen zu müssen, nicht mal mit einem Blick. Leseprobe
Eshkol Nevo: "Ich wollte keine eindeutige Story"
Wer ist die Frau, zu der sich Omri so leidenschaftlich hingezogen fühlt? Zärtlich naiv oder kalt berechnend? In der zweiten Geschichte erzählt Nevo von der Verirrung eines männlichen Fingers auf eine weibliche Brust - in diesen Tagen von #MeToo ein recht verfängliches Unternehmen.
Und mir scheint, das heißt, es kann sein, dass mein kleiner Finger ihre Brust streifte. Leseprobe
Doktor Karo verspürt ein - wie wir zum Schluss erfahren - sehr berechtigtes Beschützerinteresse an der jungen Assistenzärztin Liat Ben-Abu, die ihm ihren Liebeskummer anvertraut. "Hat er sie belästigt oder hatte er einen Fehler gemacht? Wir wissen es nicht. Dadurch wird die ganze Sache für mich als Schriftsteller erst interessant. Ich wollte keine eindeutige Story, denn wenn es eine eindeutige Geschichte ist, ist es nicht Literatur", findet Nevo.
Fiktion, die zur Realität wird
Dass die dritte - die titelgebende - Geschichte "Ein Mann trat ins Paradies", in der eine männliche Person in einem Hain verschwindet und sich auf einen Rave verirrt, uns heute als Parabel auf das Massaker der Hamas auf dem israelischen Supernova Festival und die Traumata des 7. Oktober verweist, ist der Aktualität geschuldet. "Die Endszene des Buches ist eine Fest, es ist eine Rave-Party", sagt Nevo. "Als ich diese Szene 2020 schrieb, dachte ich an die unschuldigen Partys, an denen ich als Jugendlicher teilgenommen habe. Doch seit dem 7. Oktober bekommt diese Szene eine völlig neue Bedeutung."
In Frankreich wurde der Autor gefragt, wie er es wagen könne, nach dem 7. Oktober einen derartigen Rave zu beschreiben. "Und ich sagte: Manchmal schreibt man nur Fiktion, und dann wird es irgendwie Realität."
Spannung wie bei Alfred Hitchcock
Lose sind die drei Geschichten miteinander verknüpft. Nevos Nahaufnahmen haben etwas von dem Suspense eines Alfred Hitchcock. Jeder Blick erweist sich als verdächtig, jede Facette wird zur Fährte, jede Beobachtung ist ein Indiz. Der oberflächlich harmlose Text brodelt unter der Oberfläche. Mit diesem Roman ist Eshkol Nevo ein Meisterwerk gelungen.
Trügerische Anziehung
- Seitenzahl:
- 304 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Übersetzt von Ulrike Harnisch
- Verlag:
- dtv
- Bestellnummer:
- 978-3-423-28401-1
- Preis:
- 24 €