Roman "James" erzählt den Klassiker "Huckleberry Finn" neu
Der Reiz von "James" besteht schon allein darin, eine literarische Figur aus "Huckleberry Finn" aus neuer Perspektive zu beobachten. Dem Autor Percival Everett ist ein packender, einfühlsamer Roman gelungen.
Der gute alte Mississippi. Gemächlich fließt er nach Süden. Ein Mythos. Aber in diesen Fluss zu geraten, ist lebensgefährlich, denn unter seiner Oberfläche gibt es Strömungen, die einen hinabziehen. Ein doppeltes Bild.
Überlebensstrategien gegen den täglichen Rassismus
Wer Mississippi sagt, sagt auch schnell Mark Twain. Sagt Tom Sawyer, Huckleberry Finn. Zwei Jungs, die Abenteuer erleben, unbekümmert Streiche spielen. Ach ja, da gibt es ja auch diese Nebenfigur: Jim. Ein Sklave, scheinbar dumm, mit dieser eigenartigen Sprache. Kennt den jemand?
"Jim, warst du in Richter Thatchers Bibliothekszimmer?"
"In seim was?"
"Seiner Bibliothek."
"Nein, Ma’am. Gesehen habbich die Bücher, aber im Zimmer drin warch nich, was sollchn mim Buch?"
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Percival Everett eignet sich Jim an, zieht sich die Figur über. Schon das ist ein erzählerischer Wurf, ein Roman aus der Ich-Perspektive des Sklaven. Jim hat einen Alltag, eine Familie. Die derbe Sprache ist sein Tarnmantel, übrigens kongenial übersetzt von Nikolaus Stingl. Wenn keine Weißen in der Nähe sind, liest er Søren Kierkegaard und John Locke. Es sind Überlebensstrategien gegen den täglichen Rassismus.
Jim und Huck auf der Flucht
Jim flieht aus dem kleinen Nest Hannibal, als er erfährt, dass er verkauft werden soll. Er würde sonst seine Familie nie wiedersehen. Von dieser Flucht erzählt der Roman.
Packend, einfühlsam, auf jeder Seite ein Spiel mit Identität, mit dem Wegducken vor Schlägen, einem willkürlichen Schuss, dem ungebetenen Griff von anderen ins eigene Haar. Jim nimmt Huckleberry Finn mit sich, der vor seinem gewalttätigen Vater flieht. Jetzt beginnt eine Treibjagd, weil man Jim, den entlaufenen Sklaven, für den Mörder von Huck hält.
"James": Erzählung mit dreifachem Boden
Percival Everett gelingt eine Erzählung, die einen doppelten, ja dreifachen Boden hat. Der Reiz besteht schon allein darin, eine literarische Figur aus "Die Abenteuer des Huckleberry Finn" aus neuer Perspektive zu beobachten: die wachsende Freundschaft zwischen beiden, die Neugier des Jungen, der langsam versteht, dass Jim sich tarnen muss. Wie sie getrennt werden, sich wiederfinden, zufällig überleben.
"Jim", sagte Huck.
"Was?"
"Warum redst‘n du so komisch?"
"Soll’n das jetz heißn?" Innerlich verfiel ich in Panik.
"Wie du geredet hast - ich weiß auch nich - du hast gar nicht wie’n Sklave geklungen."
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Eine weitere Ebene ist sowohl subtil als auch hochpolitisch. Mit diesem weichen, fließenden Erzählfluss zielt Percival Everett ins Herz eines amerikanischen Mythos. Und entlarvt ihn als zutiefst verlogen. Jim heißt nicht Jim - er heißt James. James steht zu seinem Namen. Manchmal stockt einem beim Lesen der Atem. Wie James in einem "Blackfacing"-Chor untertaucht, sich das schwarze Gesicht schwarz schminkt, um unerkannt - als angemalter Weißer - zu überleben. Die Dixie-Romantik der Südstaaten wird hier buchstäblich entlarvt.
Spannung bis zur letzten Seite
James und Huck kommen immer wieder an Bäumen vorbei mit den Spuren gelynchter Sklaven. Manchmal tauchen, beinahe geisterhaft, Traumszenen auf: ein brennender Flussdampfer, an dem sie vorbeirudern, eine Szene, in die sie Tage später selbst geraten. Als würde die Zeit eine Schleife drehen. Die Spannung steigert der Autor bis zur letzten Seite. Percival Everett überschreibt eine Legende, den Rassismus einer Welt, die kein Idyll war.
James
- Seitenzahl:
- 336 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-446-27948-3
- Preis:
- 26 €