Roman "Das Pferd im Brunnen": Liebe in schwierigen Zeiten
Der Schauspielerin Valery Tscheplanowa gelingt in "Das Pferd im Brunnen" das Schwierigste: Autobiografisches durchscheinen zu lassen, aber als Ich-Erzählerin im Romandebüt zu verschwinden.
Valery Tscheplanowa stand auf vielen großen Bühnen der Republik: spielte am Deutschen Theater, bei der Volksbühne und am Münchener Residenztheater. Gerade war sie in der Hauptrolle in Lessings "Nathan der Weise" bei den Salzburger Festspielen zu sehen. Die Schauspielerin wurde für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und 2017 zur "Schauspielerin des Jahres" gekürt. Tscheplanowa kam 1980 im russischen Kasan zur Welt und verbrachte dort ihre ersten acht Lebensjahre. Nun ist ihr erstes Buch erschienen.
Rückkehr an den Ort der Kindheit
In einem tartarischen Wolga-Dorf ist nicht das sprichwörtliche Kind, sondern das Pferd in den Brunnen gefallen. Eine Geschichte, die die Ich-Erzählerin Walja als kleines Mädchen von ihrem Onkel Mischa hört. Seit gut zehn Jahren lebt sie schon in Deutschland, als sie Ende der 90er-Jahre an den Ort ihrer Kindheit zurückkehrt. Vor allem, um ihre Großmutter Nina zu besuchen, an die sie sich kaum noch erinnert. Hier, in der russischen Republik Tartastan, holt sie die Geschichte vom Pferd im Brunnen wieder ein:
Dieses Pferdegerippe auf dem Grund des Brunnens stellte ich mir vor wie ein zusammengefallenes Kartenhaus. Ein Lebewesen, das stark ist und dann zerbrechlich in einem Brunnen liegt, dieses Bild ließ mich nicht los. Leseprobe
Auch, weil es für den Zerfall des Systems steht. Viele müssen sich nun neu orientieren. So wie der Physikprofessor, der ein Klapptischchen aufstellt und Schokoriegel verkauft, weil die Universität sein Gehalt nicht mehr zahlt:
Für die Menschen aber ist der Wandel in den Neunziger Jahren verheerend. Wie eine schützende Decke ist der Kommunismus über ihren Köpfen weggerissen worden, und nun ist Selbstständigkeit gefragt. Woher aber Selbstständigkeit nehmen, wenn man ein Leben lang Gehorsam gelernt hat? Eine kleine freche Gruppe teilt das große Russland in große Stücke und macht großes Geld, während der Rest den Kopf einzieht und in seiner Erinnerung wohnen bleibt. Leseprobe
Zu diesem Rest gehört Großmutter Nina. Nur, dass sie nicht gerade den Kopf einzieht. Noch im Alter ist sie eine beeindruckende 1,60 Meter kleine Erscheinung:
Sie hatte unzählige Varianten von Zornesausbrüchen, leise im Hintergrund grollende Gewitter, nicht enden wollende langatmige Konzerte aus monotonen Beschimpfungen oder blitzartige Angriffe wie die Bisse einer giftigen Spinne. Das alles gewürzt mit dem hämisch-charmanten Lächeln ihrer kleinen Zähne, das mich immer wieder in seinen Bann zog. Leseprobe
Starke Bilder und fantastische Motive
Valery Tscheplanowa erzählt von Ninas Kindheit und von Ninas Mutter Tanja, also ihrer Urgroßmutter, die die Urenkelin Walja noch heimlich taufen ließ. Und von Ninas Kindern, von ihrem Onkel Mischa und von Lena, der eigenen Mutter. Sie hat die kleine Tochter Ende der 80er-Jahre mitgenommen nach Deutschland.
Familienväter verschwinden aus dem Leben der Frauen - oder werden von ihnen verjagt. Neue Männer haben es schwer. Es geht um Liebe und Überleben in schwierigen Zeiten. Um Altwerden, Abschiednehmen, Sterben.
Warmer Blick auf kantige Charaktere
Tscheplanowa wirft einen warmen Blick auf kantige Charaktere, beschönigt nichts und dringt auch in die familiären Untiefen vor. In ihrem Debüt gelingt Tscheplanowa das Schwierigste: Autobiografisches durchscheinen zu lassen, aber als Ich-Erzählerin hinter dem Romanstoff zu verschwinden. Und den hat sie fein und dicht aus starken Bildern und fantastischen Motiven gewebt. Vorhang auf für diese neue Stimme der Literatur!
Das Pferd im Brunnen
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Rowohlt
- Bestellnummer:
- 978-3-7371-0184-4
- Preis:
- 22 €