"Nimm die Alpen weg": Kunstvolle Coming-of-Age-Geschichte
Für "Nimm die Alpen weg" wurde Ralph Tharayil mit der Alfred-Döblin-Medaille der Akademie der Wissenschaften und der Literatur ausgezeichnet. Eine kraftvolles Debüt, das Bezüge zur Biografie des Autors aufweist.
Zwei Geschwister erzählen ihre Geschichte wie aus einem Mund. Ein Mund, mit Zähnen, die von einer Zahnspange geradegerückt werden sollen. Für jede einzelne Buchseite nehmen sie sich eine kleine Erinnerung vor, wie eine Miniatur - nicht mehr als ein paar Sätze lang:
Wir waten im Schnee und singen Lieder, die von Bergen erzählen.
Wir fahren mit dem Schlitten gegen einen Baum.
Wir lachen und hauchen in unsere Hände.
Unsere Hände sind kleine Teller, unsere Hände sind Höhlen und wir stecken sie uns in die Taschen.
Unsere Knöchel drücken durch den Stoff.
Sie sind weiß, wie die Scham in unseren Mundwinkeln.
Leseprobe
Die Wendungen am Ende der Seite kommen oft überraschend - etwa wenn die Geschwister mit Freunden ins Freibad gehen, plantschen, rutschen und ihre Haut betrachten:
… bis jemand im Becken den Stöpsel zieht. Leseprobe
In keinem Schwimmbad endet der Tag so: Stöpsel raus. Das Bild jedoch könnte nicht passender sein.
Unzertrennliche Geschwister
Viele Beschreibungen sind liebevoll erdacht; poetisch. Ma und Pa sind das Gegenpaar zu den Geschwistern, Einwanderer. Sie kommen aus einem Land, das den Krieg kennt, in ein Land, das in einem Meer aus Geld schwimmt. Sie färben sich die Haare, oder wie Ralph Tharayil schreibt:
Sie machen sich ihre Haare zur Nacht. Leseprobe
So, wie die Eltern als eine in sich verschmelzende Gottheit auftreten, so unzertrennlich sind die Geschwister. Alles machen sie zusammen, alles geschieht ihnen gemeinsam, selbst der Velo-Unfall und die folgenden drei Tage im Spital.
Fragen nach Herkunft und Zugehörigkeit
Nach und nach verweben sich die Miniaturen zu einer Erzählung. Worte werden in anderen Zusammenhängen wieder aufgegriffen. Worte wie Zähne, Zunge, Libelle, Leim, Plastik und Dreck, Toastbrot und Scheibenkäse - es ist wie ein Spiel, bei dem sich diese Dinge immer wieder neu verknoten. Die Haut, die sich auf zu heiß gewordener Milch bildet, wird zur Haut aus Milch, die die Kinder sich wünschen. Immer wieder geht es um Fragen nach Herkunft und Zugehörigkeit:
Ma und Pa haben uns hochgezogen wie Gurken und Tomaten und wenn die Schnecken kommen, steinigt Pa sie mit dem Salz.
Wollen wir Schnecken essen, in Frankreich isst man Schnecken, rufen wir und jagen einen Schmetterling.
Pa schweigt und schüttelt den Kopf.
Wir sind hier nicht in Frankreich.
Wir hören nur, wir sind hier nicht.
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"Nimm die Alpen weg": Ein kraftvolles Debüt
Ralph Tharayil erzählt mit malerischer, luftig-leichter Sprache. Vieles in diesem Beziehungsgeflecht von Eltern und Kindern bleibt dadurch in der Schwebe und der Fantasie überlassen; der Lust der Leserin, Dingen und Sätzen eine eigene Bedeutung zuzuschreiben.
Wir verstehen, dass wir nicht rückwärts spielen, dass wir uns nicht rückwärts abspielen, dass wir uns nicht zurückspulen können für Ma und Pa.
Für Ma und Pa verlaufen wir nur in eine Richtung.
Für Ma und Pa verlaufen wir uns nach vorne.
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Die harte Arbeit der Eltern hat sich gelohnt: Tochter und Sohn haben jetzt ein eigenes Zimmer und ein neues Velo, das nicht klappert. Die Spange kommt raus. Die Zähne sind nun weiß und perfekt. Doch die Fragen der Heranwachsenden bleiben gleich: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Ralph Tharayil umkreist diese Fragen mit schnörkelloser Klarheit und zugleich behutsamer Verspieltheit. Damit ist ihm ein kunst- und kraftvolles Debüt gelungen.
Nimm die Alpen weg
- Seitenzahl:
- 128 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Voland & Quist
- Bestellnummer:
- 978-3-94237-559-7
- Preis:
- 22 €