"Mütter, Väter und Täter": Essaysammlung von Siri Hustvedt
Mit der Gelassenheit einer sehr klugen Frau entwirft die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt in "Mütter, Väter und Täter" neue Perspektiven auf Dinge, die wir längst zu verstehen glaubten.
Siri Hustvedt wurde mit Romanen wie "Die Verzauberung der Lily Dahl" oder "Was ich liebte" bekannt. Mittlerweile hat sie sich auch als Essayistin einen Namen gemacht. Ihr besonderes Interesse gilt dabei den Neurowissenschaften und der Biologie. In ihrem 2018 erschienenen Essay "Die Illusion der Gewissheit" stellt sie die Frage, wie sinnvoll es ist, Körper und Geist wissenschaftlich getrennt voneinander zu betrachten. An diese Diskussion knüpft auch ihre neue Essaysammlung "Mütter, Väter und Täter" an.
Interdisziplinäre Reflexion über die Illusion von Grenzen
Bei einem Familienausflug besuchte Siri Hustvedt als Kind das Four Corners Monument, ein Fleckchen Erde, auf dem sich die Bundesstaaten Arizona, Colorado, New Mexico und Utah berühren. Die Kinder verteilten Füße und Hände auf die Staaten und waren so gleichzeitig an vier unterschiedlichen Orten. Diese Erfahrung dient in dem Essay "Offene Grenzen: Erzählungen aus dem Leben einer intellektuellen Vagabundin" als Ausgangspunkt für eine interdisziplinäre Reflexion über die Illusion von Grenzen. Der Mutterleib wurde wissenschaftlich als steriles Gefäß für das Heranwachsen eines in sich geschlossenen Menschen aufgefasst. Dass sich aber Fühlen, Körperlichkeit und Geschlecht von Mutter und Kind vermischen, war, so argumentiert Siri Hustvedt, eine ungeheuerliche Vorstellung. Diese Ignoranz entspringt, ihrer Meinung nach, einer Perspektive permanenter Abwertung des Weiblichen: Die Frau ist ein passiver Körper, der Mann ein aktiver Geist. Nicht das Misogyne, das Frauenverachtende, hebt Siri Hustvedt daran hervor, sondern den Irrtum.
Niemand, kein Körper ist geschlossen. Wir sind offene Wesen, die mit und in Abhängigkeit von anderen leben. Wir alle sind aus jemandes Leib geboren. Kein Diskurs über Reinheit, keine Disziplin, keine Mauer oder Schranke, kein Torhüter und kein Koloss wird den Wahrheiten der Vermischung und Veränderung Abbruch tun. Leseprobe
"Mütter, Väter und Täter": Über die Durchdringung des Menschseins
Aus verschiedenen Richtungen bewegen sich die 20 Essays auf diese These zu. Die Reihenfolge der Texte im Band ist gewissenhaft kuratiert. So stehen am Anfang die Mütter. Siri Hustvedt erzählt von Tillie, ihrer norwegischen Großmutter, einer robusten unsentimentalen Bäuerin, und ihrer eigenen Mutter, einer feinfühligen Freundin für die Tochter. Der Dialog mit den Ahnen schafft ein Fundament für die dialogischen Prinzipien unterschiedlicher Kunstwerke, die Siri Hustvedt im Folgenden untersucht: der Roman "Sturmhöhe" von Emily Brontë oder die verspielte feministische Kunst von Louise Bourgois. Rezeption und Produktion von Literatur bekommen unter ihrem Blick eine brisante Schwingung. So stellt sie zum Beispiel sehr überzeugend die Parallelen von Fiktion und Erinnerung heraus.
Ihre breite Belesenheit und ehrliche Neugier verzahnen intellektuelles mit wissenschaftlichem Denken. Antike Philosophie, Rechtswissenschaft, Psychoanalyse, Genetik und Kunstkritik arrangieren sich bei Siri Hustvedt zu einer einzigen Disziplin: der Durchdringung des Menschseins. Sicherlich liegt das Hauptaugenmerk auf Gleichberechtigung. In "Was will der Mann" legt sie dar, dass die Plazenta, dieses so wichtige weibliche Organ, in seiner Erforschung noch immer vernachlässigt wird.
Die Plazenta scheint die Zellwanderung von der Mutter zum Fetus und vom Fetus zur Mutter zu kontrollieren, ein Phänomen, das als Mikrochimärismus bezeichnet wird. In der griechischen Mythologie ist die Chimäre ein feuerspeiendes weibliches Ungeheuer mit Löwenkopf, Ziegenkörper und Schlangenschwanz. In der Biologie ist es ein Individuum, ein Organ oder ein Körperteil mit Geweben von verschiedener genetischer Konstitution, ein Mischwesen, ein Mix. Leseprobe
Siri Hustvedt entwirft neue Perspektiven
In ihrem dunkelsten Essay "Sündenbock" über den Fall Sylvia Likens wird das, was uns verbindet, zu dem, was zerstört. Eine frustrierte weiße Hausfrau steckt in den 60er-Jahren ihre Kinder mit der Krankheit der Gewalt an. Über Wochen foltern sie ein unschuldiges Mädchen in ihrem Haus und töten es dann. Zwischen Opfer und Täter hingegen sind die Prozesse der Vermischung außer Kraft gesetzt. Die Täterschar identifiziert Sylvia als Fremdes, etwas Von-sich-selbst-Abgespaltenes, eine Grenze wird gezogen. Mit der Gelassenheit einer sehr klugen Frau entwirft Siri Hustvedt in "Mütter, Väter und Täter" neue Perspektiven auf Dinge, die wir längst zu verstehen glaubten. Es ist ein Schreiben im gefährlichen Gelände jenseits der Kategorien.
Mütter, Väter und Täter
- Seitenzahl:
- 448 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald
- Verlag:
- Rowohlt
- Bestellnummer:
- 978-3-498-00274-9
- Preis:
- 28 €