"Laufendes Verfahren": NSU-Prozess als statisches Schattenspiel
Kathrin Rögglas beinah minutiöse Beobachtung des fünfjährigen NSU-Prozesses bleibt bei allem Kunstwollen ein eigenartig statisches Schattenspiel - ohne Leben und ohne tiefere Erkenntnis.
Es steht "Roman" drauf, drin ist aber vor allem Sound. Der nicht enden wollende Monolog eines nie genau zu definierenden "Wir" würde auch als Rap-Text über das Justizsystem gut funktionieren.
Etwas ist vorbei, garantiert es uns, und das ist ja gerade das Erleichternde. Über Zukünftiges kann man nicht richten, das ist ja logisch, die Sache muss als abgeschlossen definiert sein, das ist die Aufgabe der Staatsanwälte, und das haben sie ja wohl gemacht, das zumindest wohl. Leseprobe
Wahre Wortkaskaden ergießen sich da über dem Lesepublikum. Ein wahrer Kugelhagel an Fragen schwirrt durch die Luft und - dafür eine Eins mit Sternchen - wir haben es dabei mit der wahrscheinlich besten Nutzung des Futur Zwei in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu tun.
Wir werden ja von nichts gewusst haben, erklärt man uns, obwohl wir etwas wissen hätten können und in den 90er-Jahren durchaus etwas gewusst haben, aber wir werden die Nullerjahre vermutlich anders verbracht haben, nämlich im Glauben, dass die Nachwendenazis Vergangenheit seien, dass es irgendwie aufgehört hat, von alleine aufgehört, als sei es ein Modethema, das vorübergegangen ist. Leseprobe
Kathrin Röggla beobachtet den NSU-Prozess
Das ästhetische Experiment bewegt sich auf dünnem Eis, denn es handelt schließlich von nichts weniger als dem NSU-Prozess, beobachtet und kommentiert von der Besuchertribüne des Gerichtssaales aus, kommentiert von einem Wir, das im Plural von sich spricht, aber nur Teil eines größeren Stammpublikums ist, das den Prozess verfolgt.
Da sind der "Gerichtsope" und die "Omagegenrechts", der "Bloggerklaus" und der "O-Ton-Jurist", die "Frau aus der türkischen Botschaft" und die "Vornamenyildiz", die im Verlauf des Romans auch noch "Nachnamenyildiz" heißen wird und "Grundsatzyildiz", "Punktumyildiz", "Aktenyildiz", "Antifayildiz" und "Aufkündigungsyildiz". Alles sehr schemenhaft, wie überhaupt alle Figuren sehr schematisch bleiben - auch die beobachteten Prozessbeteiligten: die Angeklagten und die Zeugen, die Anwälte und die Verteidiger, die Kläger und die Nebenkläger.
"Laufendes Verfahren": Ein statisches Schattenspiel
Kathrin Rögglas beinah minutiöse Beobachtung des fünfjährigen NSU-Prozesses bleibt bei allem Kunstwollen ein eigenartig statisches Schattenspiel - ohne Leben und ohne tiefere Erkenntnis. Es bleibt durchgängig im Gerichtssaal und nimmt die grausamen Taten nicht als Ereignisse, sondern nur als Prozessbestandteil wahr. Es versucht keinen Blick in die Seelen der Hinterbliebenen oder der Mittäterinnen. Was erfahren also wir aus Rögglas Roman, was wir nicht längst durch die journalistischen Berichte erfahren hätten? Welche Interpretationen des Verfahrens oder des Urteils bietet der Bericht an? Welchen Eindruck von dem fortwährenden Leiden der Hinterbliebenen, welchen Einblick in die Verstrickungen offizieller Behörden in die Taten und deren lückenhafte Aufklärung? Leider keine. Und so wird der nur gut 200-seitige Roman über einen der wichtigsten Strafprozesse in der bundesdeutschen Geschichte zu einem sehr, sehr langatmigen Kunst-Stück ohne Erkenntnisgewinn.
Laufendes Verfahren
- Seitenzahl:
- 208 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- S. Fischer
- Bestellnummer:
- 978-3-10-397155-2
- Preis:
- 24 €