Cover: Jackie Thomae, "Glück“ © Claasen Verlag

Jackie Thomaes Roman "Glück": Wenn die biologische Uhr tickt

Stand: 09.09.2024 06:00 Uhr

Zwei beruflich sehr erfolgreiche Frauen hadern mit ihrer Kinderlosigkeit. Davon erzählt Jackie Thomae in ihrem neuen Roman und trifft dabei einen Nerv, der in unserer Gegenwart sehr offen zu Tage liegt.

von Alexander Solloch

Zwei Frauen unter Millionen Frauen. Die eine möchte gern ein Kind, weil ihr Körper ihr diesen Wunsch zu signalisieren scheint. Die andere möchte gern ein Kind, weil sie Angst hat, bei etwas Verbotenem erwischt zu werden. Gibt es Verboteneres als Kinderlosigkeit in ihrem Alter? Was sie eint: Sie gehen auf die 40 zu und haben keinen festen Partner. "Jetzt aber schnell", raunt es ihnen von überallher ins Ohr, und ihre inneren Stimmen verstärken diesen Sound noch:

Ich sehe einen Zug davonfahren. Ich sehe die Rücklichter. Ich sehe eine Tür, die sich langsam schließt, ich bleibe allein in einem dunklen Zimmer zurück. Ich sehe eine Sanduhr, durch die rieselt die Zeit, die mir noch bleibt. Ich sehe mich selbst bei der Reise nach Jerusalem. Ich sehe mich selbst auf einem Wühltisch. Und auch ich wühle auf einem Wühltisch herum und suche nach Ladenhütern. Die Guten sind weg. Ich bin zu spät. Leseprobe

Zwei kinderlose Frauen suchen das Glück

Marie-Claire Sturm, erfolgreiche Radiomoderatorin und Podcasterin, hat eine Heidenangst vor ihrem 40. Geburtstag und will sowieso diese Lebensphase am liebsten einfach überspringen, damit alle Fragen des Lebens, vor allem die K-Frage, endgültig geklärt sind. Aber sie kommt da nicht raus - sie selbst lässt es gar nicht zu: So lädt sie sich die neu ernannte Berliner Bildungssenatorin Anahita Martini in ihre Sendung, die im zweiten Handlungsstrang mit ihrer Kinderlosigkeit hadert - nicht, weil sie unbedingt ein Kind haben will, sondern weil sie glaubt, dass sie eins haben sollte.

Frau Martini, Sie als alleinstehende, kinderlose Frau, jetzt als Senatorin für Bildung, Familie und Gedöns, haha, verzeihen Sie mir diesen Altkanzlerspruch, aber ernsthaft: Haben Sie nicht manchmal das Gefühl, dass es für diese Position nicht nur einer fachlichen Kompetenz bedarf, sondern auch einer, wie soll man sagen, persönlichen Kompetenz?
Ihre imaginäre Interviewpartnerin meldete sich zu Wort, eine Stimme, die irgendwann aufgetaucht war, um Anahita mit heiklen Fragen zu konfrontieren, bevor andere es taten. Die Frage stand im Raum. Leseprobe

… und es gibt keine Möglichkeit, sie ehrlich und zugleich opportun zu beantworten. Aus dem phantasierten wird ein reales Interview, als die Podcasterin und die Politikerin aufeinandertreffen:

Anahita war genervt von den Fragen und unzufrieden mit ihren Phrasen, aber immerhin hatten sie kaum über ihr Privatleben geredet, Marie-Claire hatte sich an ihre Vorgabe gehalten, oder vielleicht stellte sie Fragen dieser Art aus Prinzip nicht, aus Gründen der Frauenfairness. Sie prosteten einander zu, Marie-Claire moderierte die Musik ab, und dann kam er ganz plötzlich, dieser Stoß in Anahitas kurzfristig offenes Visier, diese Frage, die sich sogar ihre Eltern verkniffen, gestellt von dieser Frau, die so viel Wert auf Gendergerechtigkeit legte, und eingeleitet als Feststellung, so dass Anahita vermutlich nie erfahren würde, was Marie-Claire eigentlich von ihr wissen wollte, als sie sagte: Du selbst hast ja keine Kinder… Leseprobe

Eine Wunderpille als Ausweg?

Unauflöslich und ungewollt verstricken die beiden all ihre Gedanken mit der schmerzhaften Ungerechtigkeit, dass Männer die Zeit im Überfluss haben, die den Frauen davonrennt. Was hülfe also? Die Erzählerin schmuggelt in den ansonsten zutiefst gegenwärtigen Text eine Spur Fantasy hinein: Eine neue Pille wird erfunden, die die Wechseljahre weit, weit nach hinten schiebt. Die Pille zum Glück? Oder einfach eine Beruhigungspille? Eine Atempause?

Atmen, das zeigt uns dieser schöne, ein bisschen traurige, manchmal auch sehr lustige Roman, Atmen wäre schon gut manchmal. Atmen und den Gedanken zulassen: "Glück" ist keine gesellschaftliche Vereinbarung, sondern ein Geschenk, das man sich selbst macht.

 

Glück

von Jackie Thomae
Seitenzahl:
432 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
Claasen
Bestellnummer:
978-3-54610-046-5
Preis:
24 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 09.09.2024 | 12:40 Uhr

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Romane

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