"Hey guten Morgen, wie geht es dir?": Ein Roman wie eine Tanzperformance
Martina Hefter verarbeitet in ihrem autofiktionalen Buch viel von ihrem eigenen Leben, in dem Tanz und Performance eine große Rolle spielen. Mit "Hey guten Morgen, wie geht es Dir?" hat die Autorin den Deutschen Buchpreis 2024 gewonnen.
Sie sind ein mythisch vorbelastetes Paar, wie es gegensätzlicher nicht scheinen könnte. Jupiter ist schwer an Multipler Sklerose erkrankt und auf Rollstuhl und Pflegebett angewiesen; der Radius seiner Bewegungen wird immer kleiner. Juno dagegen ist der verkörperte Bewegungsdrang. Tanzperformance und Ballett sind ihr Lebenselixier. Während Jupiter im Nebenzimmer der ramponierten Leipziger Altbauwohnung starr liegt, macht Juno auf der Matte unermüdlich ihre Dehn- und Kraftübungen. Noch immer könnte sie die Nächte in Clubs durchtanzen, wenn sie als Frau über 50 dabei nicht merkwürdig angesehen würde.
Lügen, Misstrauen - und echte Liebe
Frauen über 50 und ihre Sehnsüchte - das ist wiederum das Geschäftsmodell von Benu. Er ist einer jener Love-Scammer in afrikanischen Internet-Cafés, die sich über die sozialen Medien mit blumigen Komplimenten und falschen Identitäten - wohlhabende weiße Männer im besten graumelierten Alter - in die Herzen und Konten liebebedürftiger Europäerinnen schleichen. Und sich dabei womöglich als Rächer für Jahrhunderte des Kolonialismus verstehen.
Auf Instagram bekommt Juno ständig solche Kontaktanbahnungsversuche. Sie fühlt sich provoziert von der billigen Masche der emotionalen Kaperfahrer und macht sich in ihren schlaflosen Nächten einen Spaß daraus, sie mit ebenso verlogenen Antworten zu irritieren, bis die Scammer abtauchen. Benu aber ist anders. Er führt den Kontakt weiter, auch nachdem die Illusion geplatzt ist.
"Wie hast du das gemerkt mit dem Scammen?"
"Wer kann so etwas ernst nehmen. Owen Wilson aus der Ukraine, und dein albernes Profilbild. Das ganze Geschnulze auch noch."
Leseprobe
Es ergibt sich ein intensives Zwiegespräch, bei dem Junos Misstrauen langsam aufweicht. Bald wechseln die beiden zu WhatsApp und Videotelefonaten. Benu sitzt dabei oft im Kerzenschein, weil in seiner nigerianischen Stadt ständig der Strom ausfällt. Und irgendwann bekennt er seine Liebe; echt jetzt. Juno ist fassungslos.
Ein Text für das Instagram-Zeitalter
"Hey guten Morgen, wie geht es dir?" ist ein zeitgemäßer Text für das Instagram-Zeitalter. Und zugleich liegt diesem Roman eines der ältesten Erzählmuster überhaupt zugrunde, allerdings auf ganz neue Weise interpretiert: die Dreiecksgeschichte. Eine Frau zwischen zwei Männern, was hier heißt: zwischen dem fernen Scammer und dem nahen Sklerotiker. Bei letzterem ist aber weniger von Beziehung als von Betreuung die Rede. Jupiter hätte Grund, sich zu beschweren:
Dass Juno mit einem fremden Menschen ausgiebig chattete, mit ihm aber oft nur ein paar hastige Sätze tauschte. Leseprobe
Aber Jupiter weiß nichts von Benu. Und dann ist da noch eine dritte Liebe, nämlich die zu sich selbst und zum eigenen Körper, dessen lange, schöne Beine mehr als einmal hervorgehoben werden. Nur im narzisstischen Genuss des Tanzes, am besten auf einer Bühne, ist Juno ganz bei sich selbst:
Eigentlich schauspielerte sie nur dann, wenn sie nicht auf einer Bühne stand. Da spielte sie, ein normaler Mensch zu sein. Leseprobe
Ein Tanz der Themen und Motive
Die Erzählerin greift nach den Sternen und hadert mit der Schwerkraft der Verhältnisse. Es ist ein kleines Wunder, dass sich das alles zu einer plausiblen Konstellation zusammenfügt: Beschreibungen des oft nicht barrierefreien Alltags mit einem schwerkranken Partner, der als Schriftsteller gerade Erfolg hat, Reflexionen über Tanzprojekte, Tätowierungen oder Lars von Triers Film "Melancholia", Erinnerungen an die eigene Kindheit in den Bergen, frühe Erfahrungen von Ausgrenzung, die einsetzende Altersdiskriminierung sowie ein bisweilen allerdings plakatives Nachdenken über Postkolonialismus, Rassismus, Ausbeutung.
ChatGPT wäre überfordert, all diese Zutaten zu einer halbwegs stimmigen Romanhandlung zu verknüpfen, aber Martina Hefter gelingt es, und zwar deshalb, weil sie eben nicht an einem Plot entlangschreibt, sondern den Text selbst als eine Art Performance entwickelt. Als Tanz der Themen und Motive, mit Anmut, Würde und Humor auch in den heiklen Momenten. Man ist gefesselt von dieser eigenwillig welthaltigen Autofiktion bis zur letzten Seite.
Hey guten Morgen, wie geht es dir?
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Klett-Cotta
- Bestellnummer:
- 978-3-608-98826-0
- Preis:
- 22 €