"Geschichte der Unordnung": Wenn der Alltag im Chaos versinkt

Stand: 17.04.2024 06:00 Uhr

Simon Elsons Roman greift ein interessantes und wichtiges Thema auf, das Viele betrifft. Was passiert mit einem Menschen, der ein Trauma erfährt? Was macht die Angst mit einem und wie kommt man da wieder heraus?

von Claudia Cosmo

Räume mit abgerundeten Ecken, Holzspielzeug , ein großer Garten und ein Leben im Einklang mit der Natur. Simon Elsons Hauptfigur erzählt von einer idyllischen Kindheit mit seinen drei Geschwistern und den nach anthroposophischem Vorbild lebenden Eltern. Der Erzähler begreift die Welt um sich herum als ein beruhigendes Kontinuum, dessen Zentrum die Eltern sind.

Meine Eltern waren in eine Klasse gegangen, liebten sich seit der Schulzeit. Sie waren schon als Kinder auf die Waldorfschule gekommen und gingen voll in dem Kosmos der anthroposophischen Rudolf-Steiner-Bewegung auf. Die Natur lag ihnen am Herzen wie ein geliebter Mensch. Auf unserem Grundstück war ihre Vision einer heilen Welt verwirklicht, auch wenn ringsum alle in eine ganz andere Richtung marschierten. Leseprobe

Lähmende Trauer und verdrängte Gefühle

In Simon Elsons Debütroman "Geschichte der Unordnung" geht es um ein Idyll, das plötzlich erschüttert wird und das Leben einer Familie verändert. Der Vater verunglückt plötzlich bei einem Verkehrsunfall. Es ist das Jahr 1988, und Simon Elsons Protagonist ist erst sieben Jahre alt. Ungekannte, heftige Gefühle überrollen alle Familienmitglieder. Ein Meer aus Gefühlen - so heißt es im Roman - breitet sich über den Hinterbliebenen aus. Doch keiner spricht offen über die lähmende Trauer und über das Unglück. Schweigen verbreitet sich im Haus. Und jeder in der Familie sucht sich eine Strategie, mit der Tragödie langfristig fertig werden zu können. Der Alltag versinkt buchstäblich im Chaos. Denn das Leben erscheint sinnlos.

Wir waren Meister darin, den chaotischen Zustand bei uns zu Hause zu verstecken. Ich brachte kaum Freunde mit und meine zweitälteste Schwester sorgte immer dafür, dass man ihr nicht ansah, dass wir auf einer Art Müllberg lebten. Wenn sie das Haus verließ, war sie einfach ein hübsches Mädchen. Ich merkte mir das für später, würde es kopieren. Meinem Bruder und mir sah man damals noch an, wie unordentlich wir lebten. Nur meine älteste Schwester, im größten Zimmer, hatte alles unter Kontrolle. Leseprobe

Der Romanheld unterdrückt seine Gefühle, spricht mit niemandem über seine innere Gestimmtheit und verdrängt die Angst, die Scham und die Trauer.

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Ein Leben in Schieflage

Mit zunehmendem Alter muss Simon Elsons Hauptfigur immer mehr dafür tun, um Gefühle zu vermeiden. Seine Teenagerliebe lässt er aus Angst vor Nähe fallen. Mittlerweile geben Sex und Drogen den Ton in seinem Leben an. In Berlin taucht er als Anfang 20-Jähriger in die feiernde Meute junger Studierender mit ein und findet in einem älteren Herrn eine Art Vaterersatz. Er will cool und unberührbar sein. Obwohl es in ihm drin ganz anders aussieht.

Der Erzähler lebt ein Leben in Schieflage, wobei der Verlustschmerz über ihm wie ein Damoklesschwert hängt. Der Roman ist stark autobiografisch geprägt und chronologisch erzählt. Man begleitet Simon Elsons literarisches Alter Ego durchs Leben bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Wirklich nah kommt man der Figur aber nicht. Genauso ambivalent wie die Hauptfigur ist auch der Roman. "Geschichte der Unordnung" schwankt zwischen Essay, Coaching-Anleitung und Roman hin und her, was humorvollerweise auch im Buch thematisiert wird. Denn Elsons Figur will unbedingt Schriftsteller werden.

Ich nannte meine Nightlife-Geschichte "Romantische Berliner Nachtstücke" und schickte sie an Verlage, bekam nur Absagen: "Ihr Text ist sowohl vom Genre als auch vom Inhalt schwer zu verorten und schwankt leider unausgereift zwischen Roman und wissenschaftlicher Arbeit." "Unausgereift? Das ist doch gerade der Witz", sagte ich beleidigt zu Roberto. Leseprobe

Kann therapeutisches Schreiben zu Literatur werden?

Simon Elsons "Geschichte der Unordnung" greift ein interessantes und wichtiges Thema auf, das Viele betrifft. Was passiert mit einem Menschen, der ein Trauma erfährt? Was macht die Angst mit einem und wie kommt man da wieder heraus? Der Roman besticht letztendlich durch die fast schon unerhörte Annahme, dass therapeutisches Schreiben zu Literatur werden könnte.