NDR Buch des Monats April: "Pudels Kern" von Rocko Schamoni

Stand: 12.04.2024 10:16 Uhr

"Pudels Kern" ist die Fortsetzung der Coming-of-age-Punk-Geschichte "Dorfpunks". Rocko Schamonis neuer Roman ist oft schmerzhaft, manchmal unappetitlich, aber auch extrem unterhaltsam und mitreißend.

Buchcover: Rocko Schamoni - Pudels Kern © Hanser blau Verlag
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von Alexandra Friedrich

In seinem zweiten Roman "Dorfpunks" erzählte Tobias Albrecht, besser bekannt als Rocko Schamoni, davon, wie es in den 1970er- und 1980er-Jahren war, als junger Punk auf dem Land in Schleswig-Holstein aufzuwachsen. Er beschrieb die Enge, die Öde und wie er - beziehungsweise sein Alter Ego Malte - versuchte, ihr zu entfliehen, indem er Punk wurde und sich selbst einen neuen Namen gab: Roddy Dangerblood. 2004 erschien das Buch. Wurde ein Bestseller, der nicht nur von Lars Jessen verfilmt, sondern auch auf vielen Theaterbühnen inszeniert wurde.

20 Jahre später veröffentlicht Rocko Schamoni jetzt die Fortsetzung dieser Coming-of-age-Punk-Geschichte. Auf Basis alter Tagebücher, Kalender und Notizen rekonstruiert er, wie er zu dem künstlerischen Allrounder wurde, der er heute ist: Rocko Schamoni, Komiker, Regisseur, Entertainer, Musiker, Betreiber des legendären "Golden Pudel Clubs" in Hamburg und natürlich Schriftsteller.

Die Suche nach Glück im Dreck

Am Horizont dieses mächtige Glimmen, das mich lockt, ich sehe es nachts und spüre es tagsüber, die Anziehungskraft einer großen fernen Macht - und ich kenne ihren Namen: Hamburg. Speziell: St. Pauli - Fixstern der Verrückten. Das ist mein Ziel, meine Hoffnung, meine imaginierte Zukunft. Leseprobe

Kaum ist die Töpferlehre abgeschlossen, folgt der junge Punk dem Lockruf. Schluss mit der imaginierten Zukunft, her mit der ganz realen Gegenwart. Mitte der 1980er-Jahre verlässt er sein behütetes Zuhause in Schleswig-Holstein, um im Dreck sein Glück zu suchen.

Ich will wie Paul Verlaine und Arthur Rimbaud den verdammten Bodensatz schmecken, mich so weit wie möglich hinein- und hinunterbewegen, ins Zwielichte, in den Ranz, dorthin, wo Feuchtigkeit und dunkle Wärme merkwürdige Organismen zum Tanzen bringen. Die Kunst wächst nicht auf sauberem Boden, denke ich mir. Du musst dich dem Dreck, den Stürmen, den Gefahren des Seins aussetzen, um etwas vom Leben zu begreifen, um etwas erzählen zu können. Leseprobe

"Der Ozean meiner Ängste ist uferlos gewesen"

In den dunkelsten Kaschemmen auf Hamburgs Kiez findet er ein neues Zuhause. Die obskuren Gestalten des Nachtlebens, die Druffis, die Clubbetreiber und Underground-Künstler werden seine Wahlfamilie und seine Lehrmeister. Er will Künstler, Musiker sein. Aber was ist seine künstlerische Handschrift? "Der Ozean meiner Ängste ist uferlos zu der Zeit gewesen", erinnert sich Schamoni. "Ich wusste zum einen wirklich nicht, an wen ich hundertprozentig adressiere, (…), denn ich wollte möglichst groß erstrahlen. Aber gleichzeitig habe ich auch begriffen: Wenn ich das tue, dann muss ich quasi eigentlich Mainstream sein. Und Mainstream bedeutet wiederum, Eingeständnisse inhaltlicher Natur machen zu müssen. Was ich nicht wollte. (...) Wie kann ich eine Sprache erfinden, die also gleichzeitig möglichst viele Leute abholt und trotzdem eigen und vielleicht auch stark oder merkwürdig oder interessant bleibt?"

Mit dem Mainstream kommt Rocko Schamoni in Berührung, als das Plattenlabel Polydor versucht, ihn zum Teenie-Star aufzubauen: mit viel Tamtam, teuren Videodrehs und Fotoshootings, wichtigen Promo-Terminen und glamourösen Veranstaltungen - wie der legendären Bravo-Party.

(...) dem einmal im Jahr veranstalteten Megaevent des Magazins, zu dem alles erscheint, was Rang und Namen hat im Teenieuniversum - außer natürlich die Teenies selbst. (...) ich stehe allein in der unüberschaubaren Menge aus Stars, Möchtegern-Prominenten, Medienvampiren, Münchner Reichen und Mächtigen und spüre immer deutlicher, dass ich hier nicht hingehöre, (...) meine Andersartigkeit, die mich einhüllt wie ein dunkler Kokon, ich komme mir vor wie ein Stück Straßenteer unter lauter Glasdiamanten. Leseprobe

Wen hat Rocko Schamoni eigentlich nicht getroffen?

Im Schwanken zwischen Größenwahn und überbordenden Selbstzweifeln schafft er es, das Unterfangen zu torpedieren, sich selbst zu sabotieren. Im Ringen um seinen künstlerischen Ausdruck helfen ihm schließlich nicht die großen Player der Musikindustrie, sondern seine vielen Künstlerkontakte. Man fragt sich mitunter: Wen hat Rocko Schamoni eigentlich nicht getroffen? Mit wem hat er sich nicht die Kante gegeben, über Musik philosophiert und über Kunst gestritten? Es ist aber kein eitles Namedropping, sondern eine Würdigung seiner Wegbegleiter und Wegbereiter, seiner Freunde und Förderer.

Die Rede ist immer wieder vom Malerfreund Daniel aus Lütjenburg, Daniel Richter, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Künstler des Landes. Er bestärkt Rocko Schamoni in Krisenmomenten, weiter Musik zu machen, überredet ihn, an die Kunsthochschule zu gehen. Er hängt herum mit der Punkband Die Goldenen Zitronen, tourt mit ihnen - und vor allem Mitglied Schorsch Kamerun wird ein enger Vertrauter, mit dem er später auch den legendären "Golden Pudel Club" aufmacht.

Es sind solche Langzeitbeziehungen, aber auch kurze augenöffnende Begegnungen - zum Beispiel mit dem damals relativ unbekannten Helge Schneider, der ihm ein komplett neues Humorverständnis vermittelt: "Dass man Sinn wirklich komplett auflösen kann, dass man auch keine Pointen mehr braucht, dass man die Geschichte einfach nur erzählen muss und wie in jeden Wurmgang reingehen darf", erklärt Schamoni.

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Rocko Schamoni entdeckt das Theater

Das Theater entdeckt er durch die Berliner Experimental-Band Einstürzende Neubauten.

(...) das Härteste, Konsequenteste, Abwegigste, Radikalste, was die Musikwelt zu bieten hat. (...) Ausgerechnet diese bizarren Kreaturen der Gegenwelt gehen nun in Hamburg ans Theater. Ans Deutsche Schauspielhaus, in den pittoresken Plüschtempel des Bürgertums, die riesige, goldstuckverzierte Puppenstube der Großkunst, Treffpunkt der Wichtigen und Wertigen, der Bestimmer und Ansager, der Reichen und Herrschenden. Leseprobe

Diesen Weltenclash will Rocko Schamoni nicht verpassen. Zum ersten Mal geht er ins Theater. Eine neue Welt eröffnet sich.

Schamoni gewährt Einblicke in seine Psyche

Was ihn interessiert und inspiriert, ist das Abweichende, das sich der Norm Verweigernde, das Untergründige und Zwielichtige. Im Außen und in seinem Inneren. Rocko Schamoni gewährt Einblicke in die dunkelsten Kammern seiner Psyche.

Mitunter lande ich in gigantischen Strudeln der Selbstzweifel, die solch einen Sog entwickeln, dass sie mich taumelnd herabziehen auf den Grund des Ozeans, wo es tagelang weder Luft noch Licht gibt, sondern nur ein ewiges finsteres Vegetieren in einem halbtoten Zustand. Leseprobe

Seine Depressionen, seine Ängste und Selbstzweifel "therapiert" Rocko Schamoni mit Alkohol und anderen Drogen: "Ich konnte die Nächte ohne Getränke nicht mehr überleben, weil ich nicht wusste, wo ich bin, wo ich hin soll", erzählt er. (...) Ich will das nicht glorifizieren. (…) Aber ich habe meinen Süchten viel zu verdanken. Damit meine ich, dass die Süchte Antriebsfeder sind, zu etwas zu gelangen, an das ich sonst nicht gelangt wäre. Ich habe Türen aufgemacht in mir in Schächte, in die ich sonst nicht hineingeraten wäre."

"Pudels Kern": Unterhaltsam und mitreißend

Tiefe durch Tiefs. Substanz durch Substanzen. Was Schamoni gehemmt und gequält hat, hat ihn auch geformt. Das Wesen seiner Kunst und die Keimzelle der musikalischen Subkultur, die wir heute Hamburger Schule nennen, legt "Pudels Kern" offen. Oft schmerzhaft, manchmal unappetitlich, aber auch extrem unterhaltsam und mitreißend.

Das NDR Buch des Monats im Programm

Die NDR Kultur Redaktionen von Radio, Fernsehen und Online wählen jeden Monat ein belletristisches Buch aus, das besonders gut zu Norddeutschland passt. NDR Kultur sendet die Rezension am 12. Februar 2024, 12.40 Uhr, NDR Info um 8.55 Uhr. NDR Kultur - Das Journal im Fernsehen berichtet über das Buch am 26. Februar 2024, 22.45 Uhr.

Pudels Kern

von Rocko Schamoni
Seitenzahl:
304 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
hanserblau
Bestellnummer:
978-3-446-27936-0
Preis:
26 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 12.04.2024 | 07:20 Uhr

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Romane

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