"Die zerbrechliche Zeit": Ein Verbrechen, das noch lange nachhallt

Stand: 12.11.2024 06:00 Uhr

Das neue Buch von Donatella Di Pietrantonio ist mit dem wichtigsten Preis Italiens ausgezeichnet worden, dem Premio Strega. Es spielt in einem Dorf in den Abruzzen, in dem vor 30 Jahren ein Doppelmord begangen wurde.

von Annemarie Stoltenberg

Geschrieben ist dieser Roman: "Für alle Frauen, die überlebt haben." Und man könnte es erweitern: für alle Frauen, die nicht zerbrochen sind an dem, was ihnen angetan wurde.

Wenn die Lebensfreude schwindet

Die Hauptfigur Lucia hatte ihre Tochter Amanda nach Mailand zum Studienanfang begleitet und sich gefreut über die schöne Tochter, die leuchtete vor Glück, ins Erwachsenenleben zu starten. Jetzt ist Amanda wieder nach Hause zurückgekehrt und spricht nicht mehr, das Leuchten in ihrem Gesicht ist verschwunden. Lucia ist in großer Sorge um sie. In den vergangenen Wochen hat sie zusätzlich das Sterben ihrer Mutter begleitet. Bei ihrer Beerdigung denkt sie, dass die Mutter jetzt ihre Familie trösten würde, wenn sie da wäre:

Sie würde unsere Hände nehmen, um uns zu trösten. Ich versuche, mir die Wärme ihrer Berührung vorzustellen. Leseprobe

In der Trauerrede bezeichnet sie der Pfarrer als "unermüdliche Arbeiterin":

Ihm gefällt diese beruhigende, partielle Wahrheit. Er weiß nicht, dass meine Mutter krank werden musste, um sich auszuruhen. Vorher hat ihr Mann ihr keine Pause gegönnt, er wollte sie als Mann auf dem Feld und als Frau im Haus. Leseprobe

Erinnerungen, die alte Wunden aufreißen

Lucias Vater möchte nun, dass seine Tochter sich um ein Grundstück im Wald kümmert, wo noch vor Jahren ein Campingplatz betrieben wurde, der langsam zuwächst und verfällt, seitdem dort im Wald ein entsetzliches Verbrechen, ein Doppelmord an zwei jungen Mädchen begangen wurde. Die Beschäftigung mit dem Grundbuch, der Plan, das Grundstück zu verkaufen, lässt alte Wunden aufreißen. Sie erinnert sich an ihren Vater damals, als es gerade geschehen war:

Auch er war verändert, diese zwei Tage hatten ihn schmaler gemacht, die Falten auf seiner Stirn dichter. Von da an würde jeder Augenblick unseres Lebens in ein Vorher und ein Nachher zerfallen, es war nicht einmal nötig die Tat zu benennen. Leseprobe

Lucia kämpft seitdem mit Schuldgefühlen. Denn damals war sie mit ein paar anderen Mädchen an den Strand gefahren und hatte ihrer besten Freundin nicht Bescheid gesagt, sie im Stich gelassen. Jene Doralice ist damals auch im Wald gewesen und wurde erst nach entsetzlichen zwei Tagen schwer traumatisiert gefunden.

Meisterlich beschrieben und vorzüglich übersetzt

Der Roman erzählt nun von einer Gemeinschaft, in der es sehr spät doch noch gelingt, ein Verbrechen, das sich in ihrem nächsten Umfeld zugetragen hat, zu verarbeiten. Die Wege dorthin sind verschlungen und rätselhaft, meisterlich beschrieben von Donatella Di Pietrantonio und vorzüglich übersetzt von Maja Pflug.