"Die Zeit im Sommerlicht": Terror-Alltag an einer Nomadenschule
In ihrem zweiten Buch für Erwachsene beleuchtet Ann-Helén Laestadius, gebürtige Samin, ein düsteres Kapitel der schwedischen Geschichte: die Erziehung samischer Kinder in sogenannten Nomadenschulen.
Sie wurden als Lappen bezeichnet, im Grundschulalter ihren Familien entrissen und in Internatsschulen gesteckt. Ihre Muttersprache, das Samische, durften sie nicht sprechen, der Jojk, ihr traditioneller Gesang, wurde als sündig markiert. Was das mit den Kindern in den 1950er-Jahren in Nordschweden machte, erzählt Laestadius aus der Perspektive der Betroffenen. Im Alltag einer sogenannten Nomadenschule sind die Kinder dem Terror ihrer Heimmutter Rita Olsson ausgesetzt.
Schockstarr muss Jon-Ante zusehen, wie die Heimmutter den schmächtigen Aslak gegen die Wand schlägt.
Alles blieb still stehen, alles verstummte. Noch einmal knallte sie Aslaks Kopf dagegen, sein Körper schien schlaff zu werden. Jon-Ante wollte schreien, blickte um sich in dem Versuch, bei den großen Jungen Hilfe zu finden. Bei denen, deren Stimmen schon vom Stimmbruch heiser oder die fast so groß wie Hausmutter waren. Nilsa, Aslaks älterer Bruder, war rot im Gesicht. Er ballte die Fäuste, und es fiel ihm schwer, still zu stehen, aber mehr tat weder er noch jemand anders. Leseprobe
Abrechnung mit der schwedischen Gesellschaft
Ann-Helén Laestadius wurde 1971 in Kiruna in eine samische Familie geboren. Sie arbeite zunächst als Gerichtsreporterin, bevor sie begann, Kinderbücher zu schreiben. Vielleicht behandelt "Das Leuchten der Rentiere" - ihr erster Roman, der jetzt verfilmt wurde - auch deshalb einen Kriminalfall um ein misshandeltes Rentier. Zugleich ist es ihre Abrechnung mit der schwedischen Gesellschaft, die Rentierzüchter jahrhundertelang diskriminierte, ihre Kinder in Umerziehungsschulen schickte.
"Meine Mutter und größere Teile meiner Familie sind auf die Nomadenschule gegangen. Das hat immer wie schwarze Wolken über mir gehangen", erzählt Laestadius. "Es war etwas, über das man nicht gesprochen hat. Das hat ganz viel in mir gearbeitet, Angst, Fantasien ausgelöst: Was war es genau, das sie erlebt haben? Hier und da hörte ich, wie darüber gesprochen wurde, aber keiner wollte das genau erzählen. So habe ich verstanden, dass da etwas ganz Furchtbares passiert sein muss."
Laestadius zeigt die Folgen von Misshandlung
"Straff" heißt das neue Buch auf Schwedisch, denn die Frage der Strafe für Misshandlung und den Entzug der eigenen Kultur stellt sich für die Internatsschüler 30 Jahre später. Ann-Helén Laestadius verschränkt die Schulzeit mit dem Erwachsenenleben in den 1980er-Jahren. Ann-Risten hat inzwischen einen Schweden geheiratet, um ihre Herkunft zu verbergen, Marge leidet an der Empfehlung der Adoptionsstelle, mit ihrer Adoptivtochter kein Samisch zu sprechen. Dann taucht die böse Heimmutter von einst wieder auf. Nilsa, Bruder des einst von ihr misshandelten Aslak, sinnt auf Rache.
Sein Jagdinstinkt erwachte, und sein Puls schlug jetzt gleichmäßig. Das hier beherrschte er. Er brauchte ihr nur zu folgen. Unsichtbar. Lautlos. Er könnte sie ohne weiteres mit einem einzigen Schlag zu Boden strecken. Aber noch nicht jetzt. Man brauchte Geduld, wie bei der Elchjagd. Man durfte nichts überstürzen und zu früh schießen. Es galt, das Tier abzupassen und in der richtigen Sekunde zu töten. Dies hier würde ihm nicht misslingen. Dies beherrschte er. Leseprobe
In geradliniger Sprache macht Ann-Helén Laestadius den Rassismus gegenüber den Sami sichtbar; die Seelenqual der Protagonisten ist dabei deutlich zu spüren. Deren Kultur wird auch durch Ausdrücke und Textpassagen auf Samisch im Text vermittelt. Es ist die Auseinandersetzung mit dem Unrecht einer in Schweden lange marginalisierten Volksgruppe - und das auf einer sehr persönlichen Ebene, die einen schnell in die Handlung zieht.
Die Zeit im Sommerlicht
- Seitenzahl:
- 480 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt.
- Verlag:
- Hoffman und Campe
- Bestellnummer:
- 978-3-455-01708-3
- Preis:
- 26 €