Literarisches Denkmal für Flugpionierin Amelia Earhart
Sie ist nicht nur als erste Frau allein über den Atlantik geflogen - Amelia Earhart war auch eine heimliche Poetin und eine Kämpferin für die Rechte von Frauen. So hatte der Autor Jo Lendle viel Stoff, um Earhart ein literarisches Denkmal zu setzen.
Von oben sah das Land aus wie eine von Großmutters Suppen. Seen schwammen in der Gegend wie Fettaugen. Weiße Brocken mochten Felsen sein oder Kartoffeln. Grüne Streifen aus Hecken, aus Schnittlauch. Niemand war da, der mich zurückrief. Zu sehen, wie das Blau in der Höhe allmählich dunkler wurde, versetzte mich in eine Art Rausch. Erst als mir einfiel, dass es auch am fehlenden Sauerstoff liegen konnte, kehrte ich um. Leseprobe
Amelia Earhart fliegt. Höhenrekorde, Atlantiküberquerungen. Eine Pionierin, eine Frauenrechtlerin. Geboren 1897. Furchtlos war sie, eigenständig. Eine Abenteurerin und eine Poetin, schwärmt Jo Lendle: "Ich bin ihr sicherlich stärker verfallen, als man sein sollte, wenn man objektiv über jemanden schreibt. (…) Sie war ein extrem charismatischer Mensch, wo immer sie sich geäußert hat, war es klug und bedächtig. Sie war stilvoll (...) - immer in diesem leicht androgynen Ton und immer ganz bewusst, klar, in dem, was sie will. Ich meine, solch ein Bewusstsein und eine innere Schönheit in ihrer Handschrift zu erkennen, aber das mögen andere lächerlich finden."
Fakten und Ausgedachtes
Blass sei sein erstes Bild von Amelia Earhart gewesen, erzählt Jo Lendle. Er wusste nicht viel mehr, als dass es sie gegeben hatte, dass sie beim Versuch, die Welt zu umfliegen, verschollen ist. Neugierig fing er an zu recherchieren und ist auf ihren umfangreichen Nachlass gestoßen: Logbücher, Briefe, Vorträge, Notizzettel - digital bestens aufbereitet. "Da verliert man sich aufs Allerschönste", so Lendle.
Manche Texte hat der Autor und Verleger eins zu eins aus dem Englischen übersetzt und in den Roman aufgenommen. Etwa das Ehegelübde, das Amelia ihrem Mann am Tag der Hochzeit übergab - ein Zeugnis ihres inbrünstigen Freiheitswillens:
"Ich werde dich in unserem gemeinsamen Leben an keinerlei mittelalterlichen Treuekodex binden, noch werde ich mich an dich gebunden fühlen. Wenn wir aufrichtig miteinander sind, werden sich Schwierigkeiten am ehesten vermeiden lassen, sollten du oder ich ein tiefes (oder flüchtiges) Interesse an anderen entwickeln." Leseprobe
Andere Passagen fabuliert Jo Lendle lustvoll dazu. Aus der historisch verbürgten, engen Freundschaft der selbstbestimmten Amelia Earhart mit der Präsidentengattin Eleanor Roosevelt - betrogen von ihrem Mann, eingesperrt, bevormundet - spinnt er eine Liebesgeschichte: "Man hat deutliche Hinweise, dass Eleanor Roosevelt sexuell offen in verschiedene Richtungen war, und ich habe mich gefragt: Kann ich den beiden eine Affäre unterstellen oder ist das maßlos? Ich hätte den beiden gewünscht, dass sie diese Freiheit miteinander sich nehmen."
Jo Lendle lässt Amelia Earhart noch einmal fliegen
Der Drang, Konventionen zu sprengen; das Aufwachsen mit einem trinkenden Vater; die Beziehung zur mädchenhaften Schwester, den Verehrern, zu ihrem Mann und Verleger George Putnam; die Gründung der "Ninty Niners" - ein Club für Pilotinnen, die sich gegen die Bevormundung der Männer wehrten: Jo Lendle erzählt Amelias Leben rückwärts, episodenhaft. Es wird einem beim Lesen zeitweise fast loopinghaft schwindelig. Doch zum Glück bedient Amelia selbst den Steuerknüppel.
Die Leserin erlebt alles durch ihre Augen. Diese Form des Erzählens habe sich ihm regelrecht aufgedrängt, erzählt Jo Lendle; irgendwann sei das "Ich" einfach in den Text gerutscht: "Für mich ist das immer das Geschenk der Literatur gewesen, in andere Kleider schlüpfen zu können. Ich glaube, weil da das Glücksversprechen der Literatur einsetzt, andere Möglichkeiten auszuprobieren - ein Empathie-Training: Wie könnte es sein, ein anderer zu sein?"
Jo Lendle hat diese echte Verbindung zu seiner Protagonistin gesucht und gefunden. Behutsam und glaubhaft erzählt er von dieser starken Frau, von ihrem kühnen Mut, ihrem spöttischen und doch zugewandten Humor. Er lässt Amelia Earhart noch einmal fliegen. Und die Leserin ist beglückt, mit im Cockpit zu sitzen.
Die Himmelsrichtungen
- Seitenzahl:
- 256 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Penguin
- Bestellnummer:
- 978-3-328-60379-5
- Preis:
- 24 €