"Der Tunnelbauer": Wie Achim 86 DDR-Bürgern zur Flucht verhalf
Kurz vor Beginn des Mauerbaus kann Joachim Neumann gerade noch aus der DDR fliehen. Von West-Berlin aus will er auch anderen Menschen zur Flucht verhelfen. Die Jugendbuchautorin Maja Nielsen hat Joachims Geschichte aufgeschrieben.
Joachim Neumann sitzt entspannt auf einem Stuhl auf dem kleinen Podium im Literaturhaus Berlin. Neben ihm Autorin Maja Nielsen - beide wollen die 15- und 16-Jährigen Schülerinnen und Schüler auf eine Zeitreise mitnehmen - sechs Jahrzehnte zurück, als es die DDR noch gab und Verhältnisse herrschten, die sich die heutigen Zehntklässler kaum vorstellen können.
"Was ich und meine Freunde gespürt haben, das war der politische Druck", so Neumann. "Der Staat DDR mischte sich in alles Mögliche und Unmögliche ein. Er schrieb Dir vor, welche Bücher Du zu lesen hast und welche Du nicht lesen darfst. Noch wichtiger für uns als Jugendliche: Er schrieb Dir vor, welche Musik Du hören darfst. Und welche verboten ist."
Tunnelbau unter Extrembedingungen
Joachim Neumann - Achim, wie er im Buch "Der Tunnelbauer" heißt - spricht ruhig und unaufgeregt; gerade das macht seine Worte so authentisch. An drei Tunneln hat er mitgegraben, 86 Menschen zur Flucht aus der DDR verholfen unter Extrembedingungen, wie es Autorin Maja Nielson im Buch beschreibt:
Ratte! Hosenscheißer! - Falco ist wirklich unglaublich. Wenn der vorne ist und gräbt, also da, wo man auf dem Rücken liegend mit dem Spaten in den Lehm stechen muss, dröhnen seine Flüche durch den Keller. Dort, am Ende des Tunnels, gibt es kaum Sauerstoff, ein Streichholz würde sofort erlöschen. Leseprobe
Gebannt hört die Schulklasse zu. Es wirkt, als könnten sie es fühlen: die Hitze, die dünne Luft, die kaum zum Atmen reicht, die klaustrophobische Enge: 80 mal 80 Zentimeter, und das auf am Ende fast 150 Metern Länge - unter der Mauer und Todesstreifen hindurch. Gegraben wurde aus dem Keller einer stillgelegten Fabrik in West-Berlin, direkt an der Grenze. In Rufnähe patrouillierten DDR-Soldaten. "Um zu vermeiden, dass da morgens und abends Schichtwechsel war und eine Gruppe junger Männer rein- und rausgeht, haben wir uns kaserniert. Wir haben rund um die Uhr gearbeitet, in zwei mal Zwölf-Stunden-Schichten, sieben Tage die Woche", erzählt Neumann.
Berührende Schicksale
Das Besondere an dem Buch "Der Tunnelbauer" ist: Die Geschichte ist genauso passiert - und wirkt doch unglaublich. Doch die Wahrhaftigkeit von Joachim Neumann beeindruckt die Schülerinnen und Schüler nachhaltig: "In der Schule lernen wir das Geschichtliche. Aber wir lernen nicht, was da wirklich passiert ist, wie es den Menschen ging. Das war sehr emotional", sagt eine Schülerin und eine andere ergänzt: "Ich war super überrascht von Joachim, dass er in diesen jungen Jahren gar nicht egoistisch war, denn man hätte in dieser Situation ja auch einfach an sich selber denken können."
Besonders nah geht allen die Geschichte von Tunnelbauer Paul, der seine Frau aus der DDR holen will, aber von den anderen verdächtigt wird, ein Verräter zu sein. Bis zu dem Tag, als die Flucht der Frau gelingt:
Der Mann, den sie die ganze Zeit für einen Spitzel gehalten haben, hockt auf dem nackten Kellerboden. Neben ihm seine Frau. Der zähe Kerl heult Rotz und Wasser. Denn er hält heute zum ersten Mal seinen vier Monate alten Sohn im Arm. Leseprobe
Und auch Joachims Antrieb war unter anderem eine Frau: Chris, seine erste große Liebe. Auch ihr gelingt mit seiner Hilfe die Tunnel-Flucht. Ob er Chris jemals wiedergesehen habe, möchte eine Schülerin wissen. "Chris? Ja, ich war 40 Jahre mit ihr verheiratet." Ein Happy End, das fast kitschig wirkt - hätte nicht das wahre Leben diese Geschichte geschrieben.
Atemlose Spannung
"Der Tunnelbauer" ist eine Geschichte, die sehr lebendig und anschaulich die Tragik und Dramatik um den Mauerbau transportiert - selbst für die, die die Zeit nicht nur erlebt, sondern gestaltet haben: "Ich habe das Buch in vier oder fünf Stunden gelesen", sagt Neumann. "Ich hätte es vielleicht auch schneller geschafft, wenn ich mir nicht zwischendurch immer wieder hätte die Augen wischen müssen. Da sind die Emotionen hochgekommen."
Und das schafft das Buch: Es erzeugt atemlose Spannung, bleibt dabei stets glaubwürdig und berührt - Jugendliche, aber auch Erwachsene.
Der Tunnelbauer
- Seitenzahl:
- 192 Seiten
- Genre:
- Jugendbuch
- Zusatzinfo:
- ab 13 Jahren
- Verlag:
- Gerstenberg
- Bestellnummer:
- 978-3-8369-6230-8
- Preis:
- 14 €