"Der Held der See": Kunstvoller Roman über Selbstfindung
Mit "Der Held der See" hat Yukio Mishima einen klugen und philosophisch komplexen Roman geschrieben, der für unsere Gegenwart nichts an Faszination und Bedeutung verloren hat. Ursula Gräfe hat ihn aus dem Japanischen übersetzt.
Yukio Mishima gehörte der literarischen Avantgarde seiner Zeit an. Der 1925 in Tokio geborene japanische Autor zählt zu den wichtigsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Er war Prosaschriftsteller, Essayist, Schauspieler, Model, Filmregisseur, Lyriker und engagierte sich auch politisch. 1970 beging Mishima rituellen Selbstmord.
Seit zwei Jahren widmet sich der Verlag Kein & Aber der deutschsprachigen Neuübersetzung von Mishimas literarischem Werk. Jetzt ist mit "Der Held der See" ein weiterer Roman von Mishima in einer Neuübersetzung erschienen.
Die Suche nach Identität und Verortung
Aus Wut, jeden Abend von seiner Mutter eingesperrt zu werden, randaliert Noboru in seinem Zimmer herum und entdeckt in der Wand ein kleines Guckloch. Das eröffnet dem 13-Jährigen eine völlig neue Welt. Es ist ein Blick in das Schlafzimmer seiner Mutter namens Fusako, die seit fünf Jahren verwitwet ist:
So fand Noboru heraus, dass seine Mutter die Angewohnheit hatte, sich vor dem Schlafengehen nackt auszuziehen. Der Ankleidespiegel befand sich in einer versteckten Ecke des Zimmers, und seine nackte Mutter darin zu sehen, wenn sie dicht davor saß, war schwierig. Leseprobe
Yukio Mishimas 1963 erschienener Roman "Der Held der See" erzählt in vier Teilen über die Suche nach Identität und Verortung im Leben. Und zwar aus der Perspektive des heranwachsenden Noboru und des Mitte 30-jährigen Seemanns Ryuji Tsukazaki, deren Lebenslinien sich kreuzen. Noboru ist Mitglied einer sechsköpfigen Bande, die auf der Suche nach dem Männlich-Heroischen ist. Noboru möchte etwas Heldenhaftes tun oder einen wahren Helden treffen. Den scheint er in Ryuji gefunden zu haben, der als zweiter Offizier über unzählige Abenteuer auf hoher See berichten kann und zum neuen Lebensgefährten von Noborus Mutter wird.
Bisher verhalf die Seefahrt Ryuji dazu, an seiner persönlichen Heldensaga festzuhalten. So inszeniert er sein Leben mal als ruhmreicher Rückkehrer nach einer langen Seefahrt und dann wieder als mutiger Held, der zu einem neuen, gefahrenreichen Abenteuer aufbricht und eine weinende Frau zurücklässt. Auch in Noborus Augen hat Ryuji damit seinem Mannsein einen Sinn gegeben, was den heranwachsenden Teenager in seiner Selbstfindung beflügelt:
Plötzlich drang das tiefe Dröhnen eines Schiffshorns durch das offene Fenster und erfüllte den dämmrigen Raum. Erst durch das Horn waren sie eine kosmische Verbindung eingegangen und hatten Einblick in den unentrinnbaren Kreislauf des Daseins gewährt, der den Jungen mit seiner Mutter, die Mutter mit dem Mann, den Mann mit dem Meer und das Meer mit Noboru verband. Leseprobe
Der "Held" entscheidet sich für die Liebe
Doch dann kippt die Situation in Yukio Mishimas Roman, der durch eine einfache, aber feinsinnig gespannte Sprache fasziniert. Seemann Ryuji kehrt nicht mehr aufs Meer zurück, sondern heiratet Noborus Mutter, die in Yokohama ein Geschäft für westliche Luxuswaren betreibt, in das auch Ryuji mit einsteigt. Völlig außer sich berichtet Noboru seiner Bande von Ryujis Entscheidung, der damit auch zum neuen Vater des Jungen wird.
In "Der Held der See" webt der 1970 verstorbene Autor Yukio Mishima sein Prinzip der "Ethik der Tat" mit hinein, eine an die Samurai-Lehre angelehnte Haltung. Dabei ist das Erreichen des Zieles zweitrangig, wenn das Handeln im reinen Geist höherer Ideale erfolgt. Und so schmiedet die Bande um Noboru einen Plan, dem sich Ryuji vielleicht sogar im vollen Bewusstsein als Opfer hingibt, um letztendlich den erstrebten Ruhm erreichen zu können.
Mit "Der Held der See" hat Yukio Mishima einen klugen, kunstvollen und philosophisch komplexen Roman geschrieben, der für unsere Gegenwart auch Dank der deutschsprachigen Neuübersetzung nichts an Faszination und Bedeutung verloren hat.
Der Held der See
- Seitenzahl:
- 208 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
- Verlag:
- Kein & Aber
- Bestellnummer:
- 978-3-0369-5046-4
- Preis:
- 24 €