Cover Serhij Zhadan, "Chronik des eigenen Atems" © Edition Suhrkamp

"Chronik des eigenen Atems": Gedichte in Zeiten des Krieges

Stand: 18.11.2024 06:00 Uhr

Der Ukrainer Serhij Zhadan gehört zu den wichtigsten Autoren seines Landes. Seine "Chronik des eigenen Atems" versammelt Texte aus den Monaten vor und nach dem 24. Februar 2022, dem Kriegsbeginn in der Ukraine.

von Niels Beintker, SWR

Das Buch erinnert auch an die Menschen im Land, die jetzt den dritten Kriegswinter erleben müssen. "Vergesst uns nicht", ruft Serhij Zhadan, Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2022, seinen Leserinnen und Leser zu.

Falle Schnee, auf unsere Kindheit
Zuflucht aus Treue und Klang,
hier waren wir vertraut
mit der dunklen Seite der Sprache
mit der Verdunklung der Zärtlichkeit,
hier lernten wir die Stimmen zusammen zu legen
wie Besitz (…)
Leseprobe

Eine "kurze Geschichte vom Schnee" will die Stimme in diesem Gedicht von Serhij Zhadan zusammentragen, gestützt auf Nacherzählungen von Augenzeugen undauf Liedern und Erinnerungen von Passanten. Der Schnee wird dabei selbst auf den Weg geschickt, durch die nächtliche, dunkle Stadt, zu den Feldern vor ihren Toren, ebenso durch die Lebenszeit eines Menschen. Nichts verschwindet hier unter dem Schnee. Im Gegenteil: Alles tritt ans Licht.

Für Serhij Zhadan - so erzählt er dieser Tage im Interview - ist der Schnee eine Metapher für Bewegung und Veränderung, selbst in Momenten der Erstarrung: "Einerseits ist Schnee das, was das Leben bedeckt. Das, was nach einer bestimmten Manifestation des Lebens kommt, andererseits ist Schnee nichts Endgültiges. Nichts, das alle möglichen Auswege versperrt. Trotz allem kommt nach ihm etwas, nach ihm bleibt trotz allem die Möglichkeit eines Auswegs, die Möglichkeit der Stimme."

Weitere Informationen
Serhij Zhadan, ukrainischer Schriftsteller und Musiker sowie Träger des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2022, spricht während der Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche. © picture alliance/dpa Foto: Sebastian Gollnow

"Chronik des eigenen Atems" - Rezension in der ARD Audiothek

Der Gedichtband des Ukrainers Serhij Zhadan versammelt Texte aus den Monaten vor und nach dem Kriegsbeginn in der Ukraine. extern

Als die Sprache verschwand

Im neuen Gedichtband "Chronik des eigenen Atems" nimmt die "kurze Geschichte des Schnees" eine wichtige Rolle ein. Das lange Gedicht, datiert auf den 10. Februar 2022. Es ist das letzte Gedicht, das vor dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine entstand. Vier Monate lang konnte Serhij Zhadan keine Poesie mehr schreiben. Die Sprache verschwand, berichtet der Schriftsteller, der heute auch als Soldat für die Freiheit seines Landes kämpft, im Nachwort des Buches. Der tiefe Bruch, die russische Invasion, ist in der Mitte des Gedichtbandes dokumentiert. Es gibt ein sicht- und fühlbares Davor und Danach. Die Gedichte nach dem Februar 2022 richten sich auch gegen das Verstummen, ebenso gegen die Angst.

Es erwarten Menschen den Abend, die Schnecken gleichen,
so hart schlafen sie auf den Bahnhöfen, so tief.
Gebrochen die Grenzlinie wie ein Kiefernzweig.
Der Weg ist schwer, wenn du dein Haus und dein Gestern auf dem Rücken trägst. Leseprobe

Poesie als Ausdruck eines tiefen Humanismus

Die Menschen, die den Schnecken gleichen, flüchten vor den russischen Aggressoren: Frauen und Kinder, auf der Odyssee westwärts, auf Wegen, die von Stimmlosigkeit markiert sind. "Das Haus ist euch genommen, nicht aber das Herz", ruft ihnen die Stimme im Gedicht nach.

Die Poesie, so Serhij Zhadan, könne das aufnehmen, was auf den ersten Blick als unsagbar erscheint. Es könne hinter die Dinge, hinter das Sichtbare blicken. Das macht diese Form des Schreibens - in den Augen des Schriftstellers - besonders: "Natürlich braucht es ein Bild, eine Metapher, eben genau die metaphorische Art zu sprechen, um diesen Dingen Klang zu verleihen, um sie aus dem Schatten zu holen, um sie aus dem Dunkel ans Licht zu holen. Vielleicht ist das eine Funktion der Dichtung in diesen Zeiten, in den Zeiten des Krieges, dass die Dichtung von etwas Zeugnis ablegen kann, wozu die gewöhnliche menschliche Sprache nicht in der Lage ist, wofür ihr die Sprachkraft, das Vokabular nicht reicht."

Serhij Zhadans "Chronik des eigenen Atems", begonnen im März 2021, führt bis in den Juni 2023. Immer wieder durchstreifen die Gedichte, eindrücklich übertragen von Claudia Dathe, die große Stadt Charkiw. Am 19. Oktober 2022 (kurz vor der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan) heißt es in der "Chronik des eigenen Atems": Die Sprache brauche jene, die leise sprechen "und überzeugend schweigen". Das wäre auch eine treffende Umschreibung für diese Gedichte, Ausdruck eines tiefen Humanismus und einer stetigen Ermutigung.

Weitere Informationen
Spaziergänger im Herbst © dpa Foto: Uwe Zucchi

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Chronik des eigenen Atems

von Serhij Zhadan
Seitenzahl:
124 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
Verlag:
Edition Suhrkamp
Bestellnummer:
978-3-518-12840-4
Preis:
20 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 18.11.2024 | 12:40 Uhr

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