Andrzej Stasiuks "Grenzfahrt": Warten auf den Krieg
Andrzej Stasiuk beschreibt in Grenzfahrt die Tage und Stunden vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunion - ein kurzes Innehalten vor dem Weltenbrand - und eine sehr persönliche Reise in die Vergangenheit.
Der Fluss Bug im Osten Polens markiert eine Grenze. 1941 stehen sich hier zwei hochgerüstete Mächte lauernd gegenüber. Die deutsche Wehrmacht besetzt polnische Dörfer am westlichen Ufer, russische Soldaten patrouillieren im Osten. Dazwischen ducken sich die einheimischen polnischen Kleinbauern - jüdische Geflüchtete, Partisanen. Nur noch wenige Tage vor dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941. Es ist kein Idyll. Es ist tiefe Nacht.
Alle, die in dieser Nacht nicht schliefen, horchten in ihr Land hinein. Mit offenen Augen lagen sie da oder gingen im Dunkeln umher, oder sie saßen ohne Licht am Tisch, die Ellbogen aufgestützt, und sahen den schwarzen Himmel, der sich über der Ebene erstreckte. Ein Lufthauch genügte, und alles verschwand. Ein Funken genügte, und alles stand in Flammen.
Das Warten auf den Krieg
Die Handlung des Romans ist eigentlich keine: Hier herrscht Stillstand. Andrzej Stasiuk geht sehr nah an die Menschen, an die Gesichter, die Gerüche heran, an die fiebrigen Wunden, ungewaschenen Körper, die Schlachtung eines Schweins, brutal und roh. Mittendrin die Geschwister Maks und Doris, jüdische Geflüchtete; sie bitten Lubko, den Fährmann, sie ans andere Ufer zu bringen. Sie wollen in den sowjetischen Herrschaftsbereich, bloß weg von den Deutschen.
Er legte beide Arme um sie und drückte sie an sich. Durch die Spalte zwischen den Brettern konnte man sehen, dass das Schwarz der Nacht blasser wurde. Eine Maus raschelte. Wir sind ganz allein unter den Lebenden, dachte er.
Dann ist da noch eine Gruppe polnischer Partisanen, die sich auf den Kampf mit den Besatzern vorbereitet: Im Zentrum steht der Zugführer, ein kampfeswilliger Stiernacken, den eine seltsame Aura umgibt: Man muss ihm einfach gehorchen. Eine verlauste Gruppe, kaum Armee zu nennen. Im Bauernhof nur ein paar Meter weiter kochen sich die deutschen Soldaten echten Bohnenkaffee, scheinbar harmlose, nette Jungs. Der Terror der Nazis ist hier nur ein fernes Echo, wie die schweren Motorräder, die durch die Dörfer knattern. Bis die Flugzeuge über das Dorf fliegen. Irgendwann sind die Deutschen weg. Eine Metallschlange bewegt sich Richtung Osten. Der Überfall, die Vernichtung beginnt.
Der Himmel ist klar, kein Wölkchen. Es donnert unter der Erde, denkt er. Da sieht er, wie hinter der Anhöhe eine Staubwolke aufsteigt. Kurz danach erscheinen Fahrzeuge. Eines hinter dem anderen fahren sie, in goldenen Staub gehüllt.
"Grenzfahrt": Ein Märchen trifft auf die Metallwelt des Krieges
Absolut bewegend, wie der Autor dieses kurze Innehalten, die Stunden vor dem Weltenbrand schildert. Keiner weiß, wann es losgeht, wir als Lesende von heute wissen es. Und Stasiuk webt in diese Wartesituation einen zweiten Handlungsfaden. Er reist mit seinem dementen Vater in das ehemalige Grenzgebiet östlich von Warschau, besucht die Orte von früher. Der Vater erkennt nichts mehr wieder. Die Dörfer sind mittlerweile aufgehübscht, an der Tankstelle tragen sie Coronamasken. Ein zerbrechlicher Frieden, so wirkt es.
Das Buch hat zähe Passagen, liest sich manchmal schwierig, nicht immer werden die Situationen plastisch und verständlich. Was aber gelingt, ist die sinnliche Dichte, der Tonfall des Flüsterns, der bedrohliche Dämmerzustand. Man sitzt förmlich nachts an den klebrigen Küchentischen, raucht eine Zigarette mit. Animalische Begierden brechen auf - und ständig stellt sich die Frage: Wer drückt den Abzug? Wer stirbt? Wer rastet aus, weil er oder sie die Situation nicht mehr erträgt? "Grenzfahrt" liest sich wie ein uraltes Märchen, das auf die Metallwelt des Krieges trifft. Der Krieg ist die ultimative Grenze.
Grenzfahrt
- Seitenzahl:
- 355 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall
- Verlag:
- Suhrkamp
- Bestellnummer:
- 978-3-518-43126-9
- Preis:
- 25 €