Buchcover: Andrzej Stasiuk - Grenzfahrt © Suhrkamp Verlag

Andrzej Stasiuks "Grenzfahrt": Warten auf den Krieg

Stand: 29.03.2023 06:00 Uhr

Andrzej Stasiuk beschreibt in Grenzfahrt die Tage und Stunden vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunion - ein kurzes Innehalten vor dem Weltenbrand - und eine sehr persönliche Reise in die Vergangenheit.

von Peter Helling

Der Fluss Bug im Osten Polens markiert eine Grenze. 1941 stehen sich hier zwei hochgerüstete Mächte lauernd gegenüber. Die deutsche Wehrmacht besetzt polnische Dörfer am westlichen Ufer, russische Soldaten patrouillieren im Osten. Dazwischen ducken sich die einheimischen polnischen Kleinbauern - jüdische Geflüchtete, Partisanen. Nur noch wenige Tage vor dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941. Es ist kein Idyll. Es ist tiefe Nacht.

Alle, die in dieser Nacht nicht schliefen, horchten in ihr Land hinein. Mit offenen Augen lagen sie da oder gingen im Dunkeln umher, oder sie saßen ohne Licht am Tisch, die Ellbogen aufgestützt, und sahen den schwarzen Himmel, der sich über der Ebene erstreckte. Ein Lufthauch genügte, und alles verschwand. Ein Funken genügte, und alles stand in Flammen.

Das Warten auf den Krieg

Die Handlung des Romans ist eigentlich keine: Hier herrscht Stillstand. Andrzej Stasiuk geht sehr nah an die Menschen, an die Gesichter, die Gerüche heran, an die fiebrigen Wunden, ungewaschenen Körper, die Schlachtung eines Schweins, brutal und roh. Mittendrin die Geschwister Maks und Doris, jüdische Geflüchtete; sie bitten Lubko, den Fährmann, sie ans andere Ufer zu bringen. Sie wollen in den sowjetischen Herrschaftsbereich, bloß weg von den Deutschen.

Er legte beide Arme um sie und drückte sie an sich. Durch die Spalte zwischen den Brettern konnte man sehen, dass das Schwarz der Nacht blasser wurde. Eine Maus raschelte. Wir sind ganz allein unter den Lebenden, dachte er.

Dann ist da noch eine Gruppe polnischer Partisanen, die sich auf den Kampf mit den Besatzern vorbereitet: Im Zentrum steht der Zugführer, ein kampfeswilliger Stiernacken, den eine seltsame Aura umgibt: Man muss ihm einfach gehorchen. Eine verlauste Gruppe, kaum Armee zu nennen. Im Bauernhof nur ein paar Meter weiter kochen sich die deutschen Soldaten echten Bohnenkaffee, scheinbar harmlose, nette Jungs. Der Terror der Nazis ist hier nur ein fernes Echo, wie die schweren Motorräder, die durch die Dörfer knattern. Bis die Flugzeuge über das Dorf fliegen. Irgendwann sind die Deutschen weg. Eine Metallschlange bewegt sich Richtung Osten. Der Überfall, die Vernichtung beginnt.

Der Himmel ist klar, kein Wölkchen. Es donnert unter der Erde, denkt er. Da sieht er, wie hinter der Anhöhe eine Staubwolke aufsteigt. Kurz danach erscheinen Fahrzeuge. Eines hinter dem anderen fahren sie, in goldenen Staub gehüllt.

 

Weitere Informationen
Viele Bücher in Regalen in einer Buchhandlung, eine junge Frau steht vor einem der Borde und zieht Bücher heraus © Rolf Vennenbernd/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ Foto: Rolf Vennenbernd

Bücher 2023: Diese Romane haben uns bewegt

Ob Juli Zehs "Zwischen Welten", Stuckrad-Barres "Noch wach?" oder Kehlmanns "Lichtspiel" - viele Bücher haben 2023 für Gesprächsstoff gesorgt. mehr

"Grenzfahrt": Ein Märchen trifft auf die Metallwelt des Krieges

Absolut bewegend, wie der Autor dieses kurze Innehalten, die Stunden vor dem Weltenbrand schildert. Keiner weiß, wann es losgeht, wir als Lesende von heute wissen es. Und Stasiuk webt in diese Wartesituation einen zweiten Handlungsfaden. Er reist mit seinem dementen Vater in das ehemalige Grenzgebiet östlich von Warschau, besucht die Orte von früher. Der Vater erkennt nichts mehr wieder. Die Dörfer sind mittlerweile aufgehübscht, an der Tankstelle tragen sie Coronamasken. Ein zerbrechlicher Frieden, so wirkt es.

Das Buch hat zähe Passagen, liest sich manchmal schwierig, nicht immer werden die Situationen plastisch und verständlich. Was aber gelingt, ist die sinnliche Dichte, der Tonfall des Flüsterns, der bedrohliche Dämmerzustand. Man sitzt förmlich nachts an den klebrigen Küchentischen, raucht eine Zigarette mit. Animalische Begierden brechen auf - und ständig stellt sich die Frage: Wer drückt den Abzug? Wer stirbt? Wer rastet aus, weil er oder sie die Situation nicht mehr erträgt? "Grenzfahrt" liest sich wie ein uraltes Märchen, das auf die Metallwelt des Krieges trifft. Der Krieg ist die ultimative Grenze.

Grenzfahrt

von Andrzej Stasiuk
Seitenzahl:
355 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall
Verlag:
Suhrkamp
Bestellnummer:
978-3-518-43126-9
Preis:
25 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 29.03.2023 | 12:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Bücher 2024: Das waren die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gab es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Die Schauspielerin Katharina Thalbach sitzt auf einem Sofa. © Screenshot

Katharina Thalbach mit "Ein Wintermärchen" wieder in der Elphi

"Ein Wintermärchen" mit Katharina Thalbach in der Elbphilharmonie ist fast ein Klassiker. Heute ist die erste von neun Aufführungen. mehr