"60 Kilo Kinnhaken" Hallgrímur Helgason setzt Island-Saga fort
Mit seinem letzten Buch "60 Kilo Sonnenschein" hat Hallgrímur Helgason den Auftakt zu einer auf drei Bände angelegten Island-Saga gemacht. Nun ist mit "60 Kilo Kinnhaken" der zweite Band erschienen.
1906 an einem fiktiven Fjord im Norden Islands, in dem man den realen Fjord Siglufjörður erkennt. Der 18-jährige Gestur, die Hauptfigur in "60 Kilo Kinnhaken", blickt immer wieder fasziniert zum Fjord hinaus:
Selbst im alltäglichsten Regenschauer, der wie ein dunkelgrauer Vorhang über den Horizont wanderte, schienen ihm wunderbare Begebenheiten, eine spannende Geschichte, die Gesänge fremder Völker, Auseinandersetzungen jenseits des Urals, Schiffshavarien im Bosporus zu stecken. Die Fjordmündung war sein Fernseher. Leseprobe
Hallgrímur Helgason beschreibt sprachmächtig die Entwicklung Gesturs und den Übergang des bitterarmen, bäuerlichen Islands in die Moderne durch das Einsetzen der Heringsfischerei. Lawinenunglücke haben Gesturs Familie und sein Umfeld schwer getroffen. Motiviert durch die mit dem Hering verbundene Goldgräberstimmung versucht Gestur, sich und die Überlebenden aus dem Elend zu befreien.
"60 Kilo Kinnhaken" ist ein einfühlsamer Bildungsroman
Helgason schildert tragikomisch, wie Gestur erste sexuelle Erfahrungen macht, und herzzerreißend, wie er von der Liebe überwältigt und enttäuscht wird. Dem Autor ist ein einfühlsamer Bildungsroman gelungen, souverän und gewitzt von Karl-Ludwig Wetzig übersetzt, ein Buch, in dem Helgason zwischen den Zeilen auch die heutigen Isländer porträtiert.
Der Name "Gestur" bedeutet "Gast". Isländer seien wie Gäste im eigenen Land, sagt Helgason: "Als Isländer fühlt man tatsächlich, dass man hier nicht sein ganzes Leben verbringt. Ich habe in einem anderen Roman geschrieben: Der schönste Ort in Island sei der Flughafen in Keflavík. Denn da fühlen sich Isländer am besten. Sie kehren zurück ins Land, das sie lieben, oder sie verlassen das Land, das sie hassen. Alle Isländer sind also am Flughafen gut gelaunt. Auf ihren Lippen liegt ein Lächeln."
Helgason hat Gespür für Situationskomik
Die ausgiebige Recherche hat den Roman bereichert und glaubwürdig gemacht. Helgason hat auch am besagten Fjord einen drei Wochen dauernden Schneesturm erlebt und erahnt, unter welch harschen Bedingungen die Menschen damals in ihren Torfhäusern ohne Elektrizität lebten. Am Ende des neuen Buchs ist Gestur dreißig und stolzer Besitzer eines moderneren Hauses. Dafür musste er etliche Kämpfe ausfechten.
"60 Kilo Kinnhaken" ist ein insgesamt ernster historischer Roman und insofern nicht zu vergleichen mit den beißenden Komödien des Autors. Trotzdem ist auch das neue Buch hier und da von Helgasons wunderbar skurrilem Humor und seinem Gespür für Situationskomik geprägt. So auch an der Stelle, an der Gestur mit einer Bauersfrau seinen ersten Sex hat, neben einem Stall mit dreißig Schafen.
Gestur war ein einziges Staunen, ein leuchtendes Staunen an fremdem Gestade, seine lodernde Fackel tief in diesen Lebensbrunnen getaucht, und sie … sie packte den Stier bei den Hörnern. Mitten in ihrem Handgemenge fiel sein Blick in den Stall, und er sah sechzig grüne Lichter, die ihr Treiben beobachteten. Ihre Vorstellung war komplett ausverkauft. Leseprobe
Herausragend gut erzählte Geschichte
Die Frau wird von ihm schwanger. Es folgt die grandioseste Szene der überhaupt herausragend gut erzählten Geschichte: Just in dem Moment, in dem Gestur der Frau das Ja-Wort geben soll, stürzt ein Fischer in die Kirche und ruft, es seien Heringe im Fjord gesichtet worden. Da rennt Gestur den Heringen entgegen und seiner eigenen Hochzeit davon: "Die Leute haben die Ankunft des Herings sehr ernst genommen. Sie war wie ein Gottesgeschenk."
Ein Komet
- Seitenzahl:
- 672 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Aus dem Isländischen von: Karl-Ludwig Wetzig
- Verlag:
- Suhrkamp
- Veröffentlichungsdatum:
- 16.09.2023
- Bestellnummer:
- 978-3-608-50184-1
- Preis:
- 25 €