Hallgrímur Helgason "60 Kilo Sonnenschein"
Bekannt ist der Isländer Hallgrímur Helgason vor allem für seine skurrilen, zeitgenössischen Figuren. Nun aber hat Helgason mit "60 Kilo Sonnenschein" einen historischen Roman geschrieben.
Der Fjord war eine einzige, augenlose Schneedecke, vom Wasserfall an seinem hintersten Ende bis zur Mündung ins Meer, und es war unmöglich zu erkennen, wo sich unter ihr Wasser und wo Land befand. Leseprobe
Beim Lesen von Hallgrímur Helgasons neuem Roman "60 Kilo Sonnenschein" hat man von Beginn an das Gefühl, dem Isländer, der auch bildender Künstler ist, beim Malen über die Schulter zu schauen.
Helgasons neuer Roman ist keine Satire
Heiligabend um 1900 an einem fiktiven nordisländischen Fjord, der vom realen Fjord Sigluförður inspiriert ist: Der Bauer Eilífur hat Weizen für seine Familie besorgt. Als er nach einem Unwetter endlich zurückkehren kann, liegt seine Hütte unterm Schnee begraben. Frau und Tochter sind tot. Nur der zweijährige Junge Gestur hat überlebt, weil er an den Zitzen einer Kuh gesaugt hat. Das ist der bildmächtige Auftakt dieses durchaus ernsten historischen Romans.
Hallgrímur Helgason also einmal nicht mit zeitgenössischer Gesellschaftssatire: "Die Reise eines Schriftstellers verläuft von der Komödie bis zur Tragödie und dann vielleicht wieder zurück. Ich habe gerade meine Tragödien-Periode. Der Humor ist zwar noch da. Aber nicht im Vordergrund."
Im Vordergrund des neuen bestechenden Romans steht die Entwicklung des unehelichen Bauernsohns Gestur, der von Ziehvater zu Ziehvater weitergereicht wird, bis er, selbst noch nicht erwachsen, seinerseits die Vaterrolle annimmt.
Mit dem Hering in die Moderne
Diese Geschichte an einem Ort, der durch den Boom des Handels und vor allem der Heringsfischerei in wenigen Jahren in die Moderne katapultiert wird, lebt hier und da eben doch von den humorvollen Einfällen Helgasons.
Etwa wenn ein Pfarrer während seiner Messe einschläft und die Gemeinde so tut, als wäre alles in Ordnung. Hinzu kommen Helgasons skurrile Metaphern und die Visionen seiner Romanfiguren: 99 Forellen fliegen da kometenhaft in einen Schornstein; und Gestur verschmilzt mit der Sonne.
"In Island ist viel Raum für Visionen. Das Land ist dünn besiedelt und wenn man den weiten Horizont betrachtet und kein Mensch zu sehen ist, dann erweckt das wohl Visionen im Kopf", erklärt der Autor.
Ein realistisches Bild vom harten Leben in Island
Trotz der schrägen Ideen zeichnet Helgason einfühlsam ein realistisches Bild vom harten Leben der Isländer Anfang des 20. Jahrhunderts: wie sie im selben Raum mit einer Kuh schlafen mussten, wie sie Säuglinge aussetzten und wie sie den plötzlichen Übergang in die Moderne erlebt haben dürften.
Der Romantext liest sich dank des Übersetzers Karl-Ludwig Wetzig so flüssig, als wäre er das Original. Am Ende des Romans schließt sich der Kreis: Der Erzähler tüncht, mit der Dramatik einer Lawine, die Gegend um den Fjord wieder weiß.
Der Fisch bringt plötzlichen Reichtum
Hallgrímur Helgason ist mit "60 Kilo Sonnenschein" ein großer Wurf gelungen. Man möchte fast sagen "ein großer Fang", mit Blick auf eine der vielen Szenen, die der Leser wie ein Gemälde vor sich sieht.
Die unzähligen am Fjord entladenen Heringe funkeln, als wären sie der Sonnenschein selbst und der Autor erklärt: "Es gab so viele Heringe, dass eine Goldgräberstimmung herrschte. In nur einem Sommer konnte man zum Millionär werden. Siglufjörður wurde 'El Dorado der Fischerei' genannt. Es war verrückt."
60 Kilo Sonnenschein
- Seitenzahl:
- 567 Seiten
- Verlag:
- Klett-Cotta
- Bestellnummer:
- 978-3-608-50451-4
- Preis:
- 25,00 €