Ein kunstvolles großes Bild einer jungen Frau auf einem Gebäude © Christina Angelina/Ease One Foto: Christina Angelina/Ease One
Ein kunstvolles großes Bild einer jungen Frau auf einem Gebäude © Christina Angelina/Ease One Foto: Christina Angelina/Ease One

"Street Art is Female": Gegen die Unsichtbarkeit

Stand: 29.01.2023 06:00 Uhr

Für die Vorstellung dessen, was Street Art ist, sind immer noch deren Anfänge prägend: Weibliche Street Artists fallen wohl den wenigsten ein. Ein neuer Bildband erweitert diese Perspektive.

von Alexandra Friedrich

Street Artists - das sind doch finstere Typen, die nachts illegal U-Bahn-Waggons oder mutwillig weiße Hauswände mit ihren Sprühdosen beschmieren? Oder nicht? Dass Street Art nicht nur eine destruktive Energie, sondern auch eine große Schaffenskraft innewohnen kann, zeigt "Street Art is Female - 24 Künstlerinnen, die man kennen sollte". Der Bildband beweist:

"Street Art ist kein reiner Männerclub mehr. Es hat lange gedauert - aber jetzt ist die Zeit reif. (…) höchste Zeit, die Leistungen der Künstlerinnen zu würdigen." Leseprobe

Künstlerin Olek häkelt kuschelige Kämpfer aus einer anderen Welt

Da kann die Straßenkunst dann auch mal leise klacken, wie Stricknadeln, denn Street Art kann auch gestrickt sein. Oder gehäkelt wie bei Olek. Mit altbackener Handarbeit haben die Werke der gebürtigen Polin aber so ganz und gar nichts zu tun. Wie kuschelige Kämpfer aus einer anderen Welt wirken die von ihr komplett umhäkelten Menschen. Sie springen für Oleks mobile Installationen durch Straßen in Katowice oder New York City. Von Kopf bis Fuß eingehüllt in Camouflage, um:

"die menschliche Silhouette in eine neue Spezies zu verwandeln. Die gehäkelte Hülle macht Rasse, Hautfarbe, ethnische Zugehörigkeit und Sexualität irrelevant, tarnt sie, bürgert sie in Oleks Welt ein, in der diese Identitätsmerkmale keine Rolle spielen." Leseprobe

Olek, heute zu Hause in den USA, experimentiert hier auch mit anderen Medien. Sie verbindet das traditionelle Handwerk mit innovativer Technik - etwa in Form der Häkelmalerei. "Ich häkle Farbe in der virtuellen Realität mit dem Google Tilt Brush als virtuelle Häkelnadel. Die Betrachter:innen können sich frei im grenzenlosen Raum in riesigen Installationen aus Häkelmalerei bewegen und verirren", beschreibt Olek ihre digitalen Arbeiten. Aber auch ihre analogen Installationen sind mitunter gigantisch. Wenn sie etwa in Schweden ein komplettes Mehrfamilien-Haus vom Boden bis zum Dachgiebel in Knallpink einhäkelt, "Our Pink House": surreal und spektakulär.

Der Reiz der unperfekten Geometrie

Ebenso farbintensiv: die Arbeiten der New Yorkerin Maya Hayuk. Die frühere Fotojournalistin kreiert abstrakte Murals, Wandgemälde. Großflächig und global - von Marokko bis zur Mongolei: Diagonal aufeinander zulaufende, teils sich kreuzende Streifen in allen Farben des Spektrums. Hayuk liebt die Geometrie, "der Zauber der Existenz" verberge sich dahinter. Der Reiz liege allerdings in der unperfekten Geometrie. Die Linien verwischen. Die Farben verlaufen. Geordnetes Chaos. Chaotische Ordnung.

Neben der Geometrie fasziniert Maya Hayuk auch die Synästhesie, also die Fähigkeit, eigentlich getrennte Wahrnehmungsstränge miteinander zu koppeln. Etwa Farben zu hören oder zu schmecken. Ihre knalligen Murals erzeugen in diesem Sinne Klangfeuerwerke und Geschmacksexplosionen. "Eine Möglichkeit der Wahrnehmung von Farben ist, sie sich als elektrische Funken vorzustellen, die sich als machtvolle Kakophonie frequenzstörend auswirken können." Maya Hayuks Worte sind so poetisch und abstrakt wie ihre visuellen Arbeiten. Sie will ihre Kunst nicht bis ins Letzte erklären. "Kunst stellt viele Fragen, beantwortet aber nicht alles. Kunst kann deine Weltanschauung erschüttern und deine Sichtweise verändern. Kunst versucht oft, in unserer unvollkommenen Realität eine höhere Wahrheit widerzuspiegeln."

Geschichten von starken Kämpferinnen

Sowohl in Darstellungsform als auch in politischer Haltung konkreter und expliziter arbeitet Elle, ebenfalls eine US-amerikanische Künstlerin, Pendlerin zwischen Ost- und Westküste. Um Vielfalt geht es in ihren Collagen-artigen Wandgemälden: immer wieder fragmentierte Gesichter. Ein blaues Kullerauge und ein mandelförmiges, kastanienbraunes Auge, eine weiße Stirn, eine braune Wange und ein schwarzes Kinn ergeben zusammen ein Ganzes, das verschiedene Geschichten erzählt. Aber immer: Geschichten von stolzen, entschlossenen Frauen. "In einer vorwiegend von Männern beherrschten Welt sind meine Frauenfiguren starke Kämpferinnen."

Ein buntes Wandbild mit einer älteren Dame mit markanter Brille im Vordergrund © ELLE Foto: ELLE
Die Street-Art-Künstlerin ELLE aus New York setzte der verstorbenen Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsberg ein Denkmal.

Einer ganz besonderen Kämpferin setzte Elle 2020 ein Street Art-Denkmal: der verstorbenen Verfassungsrichterin Ruth Bader Ginsburg. Im Zentrum des Wandgemäldes: das Gesicht der linksliberalen und feministischen Ikone. Dahinter verschiedenste Symbole - vom Wappenvogel der USA, dem Weißkopfseeadler über verschiedene Darstellungen der Justizia, der "Lady Justice" bis hin zum Rauen Sonnenhut, den Black Eyed Susans, einer Blume, die für Gerechtigkeit steht. Wir erkennen die Architektur des Obersten Gerichtshofs und die Decke der Library of Congress. Kleinstteilige Wimmelbilder. Man - oder frau - kann sich nicht sattsehen daran. Im Detail steckt hier die Liebe. Und die Politik. Damit sind Elles Arbeiten beispielhaft für die weibliche Street Art.

Menschen, die es satt haben, unsichtbar zu bleiben

Alle hier versammelten 24 Künstlerinnen verstehen sich selbst als politisch, zumeist auch feministisch. "Street Art ist female" heißt der Bildband - statt "female", "weiblich" könnte es daher auch "feministisch" heißen. Herausgeberin Alessandra Mattanza fasst zusammen: "Die Arbeiten dieser Künstlerinnen machen uns mit neuen Frauen-Communities bekannt, die rund um die Erde entstehen; wir erfahren von Menschen, die es satt haben, unsichtbar zu bleiben, die sich nicht mehr fürchten, ihre Stimme zu erheben, die sich gegenseitig bei dem unterstützen, was sich im Grunde als echte Renaissance der Frauen beschreiben lässt. Wir erleben mit, wie Frauen Einigkeit als Stärke erfahren. Und das ist nur der Anfang."

Ein schwarz-weiß-Bild einer Frau auf eine Wand gemalt © penguin randomhouse Verlagsgruppe

Street Art is Female

von
Seitenzahl:
240 Seiten
Genre:
Bildband
Verlag:
Prestel
Veröffentlichungsdatum:
28. September 2022
Bestellnummer:
978-3-7913-8894-6
Preis:
36 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | 29.01.2023 | 16:20 Uhr

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