Sachbuch "Kartonwand": Wenn das Leben im Provisorium krank macht
Der 51-jährige Kabarettist Fatih Çevikkollu fragt in seinem Buch "Kartonwand", wie die psychische Krankheit seiner Mutter mit ihren Erfahrungen als Gastarbeiterin zusammenhängt.
Fatih Çevikkollu ist Schauspieler, Kabarettist und Komiker. In seinen Bühnenprogrammen hat er immer wieder den Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit den Arbeitsmigranten aus der Türkei aufs Korn genommen. Jetzt hat Çevikkollu ein Buch über seine Mutter geschrieben. Sie starb 2017. Am Ende ihres Lebens war sie psychisch krank. Çevikkollu fragte sich, ob die Leiden seiner Mutter auch mit ihren Erfahrungen als Gastarbeiterin zusammenhängen. "Kartonwand" hat der 51-Jährige seinen Text genannt, nach den Kisten, die die Familie für einen möglichen Umzug in die Türkei in ihrer Kölner Wohnung stapelte.
Tod der Mutter: Existenzieller Schock für Çevikkollu
Fatih Çevikkollu tourte gerade mit einem Solo-Programm durch Deutschland, als er erfuhr, dass seine Mutter nach einem unglücklichen Sturz in ihrer Wohnung gestorben war. Für den Kabarettisten und Schauspieler war das ein existenzieller Schock. "Ich habe mich weder um Mutter und die Familie noch die Vergangenheit gekümmert, sondern habe nach vorne geschaut und bin nach vorne gegangen. In diesem Zusammenhang hat sich die Erkenntnis breitgemacht, dass jetzt die letzten Verbindungen zum Türkischen - meine Mutter, meine Wurzeln - gekappt sind. Das ließ mich innehalten."
In ihren letzten Lebensjahren war Çevikkollus Mutter in eine Psychose abgeglitten. Sie war kaum noch zugänglich, führte wirre Selbstgespräche und lehnte medizinische Hilfe ab. Über ihre Geschichte weiß der Sohn erstaunlich wenig.
Als er seinen Vater befragen will, stößt Çevikkollu zuerst auf eine Mauer des Schweigens. Das liegt, wie der Autor überzeugend herausarbeitet, an dem Widerspruch, in dem sich die Familie eingerichtet hatte: "Wir leben hier in Deutschland, haben den Plan zurückzukehren, leben in einem Provisorium, behaupten eine Rückkehr, die behauptet, aber nie umgesetzt oder geplant oder kommuniziert wird. Und so existiert und vegetiert man so vor sich hin." Das werde alles zugedeckt von einem wabernden "Da-reden-wir-jetzt-nicht-drüber".
Kartonwand in Kölner Wohnung
Die Mutter geht erst dann in die Türkei zurück, als sie bereits von ihrer Krankheit gezeichnet ist und sich vom Vater ihrer Kinder getrennt hat. Doch zuvor hatte jahrzehntelang eine "Kartonwand" in der Kölner Wohnung der Familie gestanden.
Egal, welchen türkeistämmigen Menschen der ersten oder zweiten Generation man fragt: Alle hatten zu Hause eine Wand mit Kartons, im Keller, im Flur, in einem anderen Zimmer, in der die Sachen, die man mit in die Türkei nehmen wollte, aufbewahrt wurden. Leseprobe
Deutschland war ein ständiges Provisorium
Nach und nach findet Çevikkollu mehr über die Biografie seiner Mutter heraus und kommt zu dem plausiblen Schluss, dass es dieses ständige Provisorium gewesen sein könnte, das zur Psychose seiner Mutter beigetragen hat - die Unmöglichkeit, in Deutschland anzukommen. Zugleich verhielt sich die Mehrheitsgesellschaft feindselig, bis hin zu rassistischen Mordanschlägen, wie 1993 in Solingen. Das habe viel mit dem Thema seines Buches zu tun, schreibt Çevikkollu:
Denn es geht hier darum, wie die Atmosphäre war und wie das Lebensgefühl der Arbeitsmigrant:innen, die sich in diesem Land nicht nur nicht geschätzt, sondern auch bedroht fühlten. Meine Mutter wusste um die Gefahr, aber sie hatte niemanden, mit dem sie darüber hätte sprechen können. Leseprobe
Internationale Biografie Faktor für psychische Erkrankung
Dem Autor ist klar, dass eine Psychose wie die, an der seine Mutter litt, nicht eine einzige Ursache hat. Aber der Einzelfall passt zu den Ergebnissen der Forschung, wonach Menschen mit internationaler Biografie ein höheres Risiko haben, psychisch zu erkranken. Damit bleibt für den 51-Jährigen am Ende seiner Spurensuche zumindest ein gewisser Trost: "Ich kann verstehen, wie meine Mutter zu dem geworden ist, was sie geworden ist. Und ich empfinde sozusagen eine Ruhe in der Unruhe."
"Kartonwand" ist eine berührende und ungeschönte Erzählung
Leider wiederholt Fatih Çevikkollu seine Erkenntnis, wie Gastarbeiterinnen-Leben und Erkrankung zusammenhängen, immer wieder in seinem Text. Hier hätte eine straffere Struktur dem ansonsten beeindruckenden Buch gutgetan. "Kartonwand" ist eine berührende und ungeschönte Erzählung über die seelischen Nöte der Eingewanderten in einem Land, das allzu lang kein Einwanderungsland sein wollte.
Kartonwand. Das Trauma der Arbeitsmigrant*innen am Beispiel meiner Familie
- Seitenzahl:
- 208 Seiten
- Verlag:
- KiWi-Paperback
- Veröffentlichungsdatum:
- 17.08.2023
- Bestellnummer:
- ISBN: 978-3-462-00326-0
- Preis:
- 18 €