Queere Geschichte vom Kaiserreich bis heute: Benno Gammerl im Gespräch
"Queer" ist mehr als ein Modewort. Das beweist Benno Gammerl in seinem gleichnamigen Sachbuch, in dem er eine queere Geschichte in Deutschland vom Kaiserreich bis heute nachzeichnet. NDR Kultur hat mit dem Historiker gesprochen.
Dass unter den Hohenzollern nicht alles prüde und militaristisch zuging, beschreibt Historiker Benno Gammerl in seinem neuen Sachbuch "Queer". Im Kaiserreich wurde die erste homosexuelle Zeitschrift weltweit gedruckt. Er zeigt, wie sich historische Großereignisse mit der queeren Perspektive neu interpretieren lassen. Natürlich geht es in seinem Buch auch um queere Perspektiven, um schwule und lesbische Hinterhofbars in Berlin, die gar nicht so "Goldenen Zwanziger" und Queer-Sein in BRD und DDR. Einen Auszug des Gesprächs lesen Sie hier. Das vollständige 30-minütige Gespräch können Sie in der ARD Audiothek oder als Podcast hören.
Man würde meinen, das Queere sei ein Nischenthema und betreffe keinen großen Teil der Gesellschaft. Aber Sie zeigen in ihrem Buch, dass es zentrale Bereiche der Politik, der Gesellschaft, der Wissenschaft betraf, wie man mit queeren Menschen umging. Richtig?
Benno Gammerl: Ja, unbedingt. Das gilt zum Beispiel auch für den Nationalsozialismus. Der hat natürlich viele Dimensionen und Aspekte. Aber die Sexualpolitik, also die Verfolgung der Homosexualität und übrigens auch der Abtreibung, ist schon auch ein zentraler Aspekt des nationalsozialistischen Systems. Dabei sollte man immer mitbedenken, dass es eigentlich um alle Menschen geht. Wenn man zum Beispiel auf die Nachkriegsdekaden schaut in der Bundesrepublik, da gibt es eine ganz starke strafrechtliche Verfolgung von Homosexualität, Stigmatisierung von Frauen, die Frauen lieben, und so weiter.
Das betrifft natürlich in erster Linie diejenigen, die darunter leiden mussten. Gleichzeitig geht es dabei aber auch immer um die Stabilisierung dieser Vorstellung von harmonischer Kleinfamilie, also um den Ausschluss dessen, was nicht getan werden sollte. Der Bereich des Sexuellen und Geschlechtlichen dient immer der Hervorbringung dessen, was dann als normal gilt. Insofern sind von diesen Fragen natürlich immer alle betroffen, und es ist alles andere als ein Nischenphänomen.
In diesem Januar gab es einen vielleicht sogar historischen Moment. Anlässlich des Holocaust-Gedenktages wurde während einer Gedenkstunde zum ersten Mal der Opfer von Gewalt gegen sexuelle Minderheiten gedacht. War das auch für Sie ein besonderer Moment?
Gammerl: Ja, vor allem, wenn man weiß, wie lange darauf hingearbeitet wurde. Ich finde das wichtig. Das spricht auch für eine Diversifizierung der Erinnerungskultur - eine lange Entwicklung. Es gibt diese verschiedenen Denkmäler im Herzen Berlins, im Umfeld des Reichstags für verschiedene Opfergruppen. Diese Sichtbarkeit ist enorm wichtig. Sie ist auch deswegen enorm wichtig, weil unsere heutige Gesellschaft sich immer mehr diversifiziert. Dementsprechend muss sich auch Erinnerungskultur verändern.
Aber es ist eben auch wichtig, nicht zu vergessen, dass die Menschen, die betroffen waren, die ermordet wurden, die verfolgt wurden, nicht unbedingt immer in eine dieser Kategorien passten. Es gab auch gleichgeschlechtlich begehrende Jüdinnen. Es gab Sinti und Roma, die vielleicht Transvestiten waren. Es darf nicht passieren, dass man denkt, es gelten nur diese unterschiedlichen Opferkategorien. Im echten Leben hat sich das oft vermischt und ist durcheinander gegangen.
Laut einer aktuellen Befragung der Organisation Plan International sieht sich fast die Hälfte der befragten 18 bis 35-jährigen Männer durch Homosexualität gestört. Wie beunruhigend finden Sie das?
Gammerl: Erstmal finde ich es unverständlich. Was soll das heißen, sieht sich gestört? Ich meine, man muss ja etwas nicht mitmachen, was man sieht. Es ist mir unbegreiflich. Beunruhigend wird es natürlich dann, wenn man das koppelt, mit etwas, was früher im US-amerikanischen juristischen Diskurs "gay panic defense" hieß. Also diese Rechtfertigung für Gewalt gegen Schwule Männer mit dem Argument: "Ich fühlte mich bedroht." Ich sehe Homosexualität. Ich sehe jemanden, der sich selbst als als schwul, als homosexuell, als queer zu erkennen gibt, und das bedroht mich in meiner Identität. Das wird dann als Rechtfertigung für Gewalt verwendet. Da kann ich nur sagen: Dagegen muss man sehr konsequent vorgehen - gegen jegliche Form von homo- und transfeindlicher Gewalt. Und man muss immer wieder betonen, sowohl im öffentlichen Diskurs, als auch im Alltag, dass diese Form der Ablehnung vollkommen unakzeptabel ist.
Und dann will ich noch ein Argument hinzufügen: Die Leute tun sich selber keinen Gefallen damit. Was hat man davon? Und was sagt es aus über die eigene sexuelle Lust und die eigene Lebensfreude, wenn einem das Wichtigste ist, sich von anderen bedroht zu fühlen? Stattdessen könnte man darauf achten und danach fragen: Was ist eigentlich das, was ich mir selber wünsche und vorstelle? Man muss doch nicht andere an ihrem Glück hindern. Das macht einen selber, würde ich sagen, auch nicht glücklich.
Das Gespräch führte Peter Helling. Das vollständige 30-minütige Gespräch können Sie in der ARD Audiothek oder als Podcast hören.