Historikerin Katja Hoyer © privat

Historikerin Katja Hoyer: Wie Bismarck den ersten deutschen Staat formte

Stand: 06.03.2024 17:24 Uhr

In ihrem aktuellen Buch "Im Kaiserreich" beschäftigt sich Historikerin Katja Hoyer mit Otto von Bismarck und der riesigen Aufgabe, die er sich vorgenommen hatte: Aus 39 Einzelstaaten ein vereintes Deutschland zu formen. Darüber hat sie DAS! im NDR Fernsehen gesprochen.

Was ist dieses Deutschland überhaupt, welches mit der Reichsgründung im Jahr 1871 in die Form eines Nationalstaats gegossen wurde? Zunächst: "Vor Ausrufung des Kaiserreichs war Deutschland ein Flickenteppich von verschiedenen Fürstentümern, Königreichen und Kleinststaaten, die sich über die Mitte von Europa verstreut haben", so die Historikerin Katja Hoyer, die am renommierten King's College in London forscht. "Es war gar nicht genau klar, wo das Deutschtum anfängt und wo es aufhört."

Die Idee, dass Deutschland ein Staat werden sollte, gab es jedoch schon länger. Philosophen sprachen darüber, und auch Akteure wie die Gebrüder Grimm sorgten mit ihrer Märchensammlung in deutscher Sprache für die Verfestigung nationaler Ideen. "Auch viele von den riesigen Wirtschaftsunternehmen, die sich im 19. Jahrhundert Stück für Stück etabliert haben, haben argumentiert, dass man in einem vereinigten Deutschland besser wirtschaften kann, indem man etwa die verschiedenen Währungen vereinheitlicht", so Hoyer.

"Deutsch, weil man gegen jemanden kämpft, der nicht deutsch ist"

Was zu einer Vereinigung noch fehlte, war ein konkreter Anlass. Bei einer seiner berühmtesten Rede im Jahr 1862 vor dem Preußischen Abgeordnetenhaus sprach Otto von Bismarck davon, dass nur "Blut und Eisen" das Land zusammenbringen könnten - mit anderen Worten: Krieg. "Die Idee war, ein Band zu schaffen, das daraus besteht, dass Deutsche gegen andere kämpfen", erklärt Hoyer. "In dem Moment hört es auf, dass man sagt, man ist ein Bayer oder Hamburger. Man ist deutsch, weil man gegen jemanden kämpft, der definitiv nicht deutsch ist."

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Frankreich als "Erbfeind": Trauma seit Napoleon  

Nach den drei deutschen Einigungskriegen gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) entstand schließlich das preußisch dominierte Deutsche Kaiserreich. Das Kalkül des preußischen Ministerpräsidenten Bismarck war aufgegangen - wobei er vor dem Krieg gegen Frankreich ordentlich in die Trickkiste gegriffen hatte.

"Wenn Preußen diesen Krieg angefangen hätte, hätten zum Beispiel die Bayern, die davon eigentlich nicht so begeistert waren, sich nicht unbedingt angeschlossen", erläutert die Historikerin. "Es war unbedingt notwendig, dass Preußen angegriffen wird. Dabei hat man auf die Idee von Frankreich als Erbfeind gesetzt. Das Trauma von den napoleonischen Kriegen, die 1815 zu Ende waren, konnte so genutzt werden." Bismarck provozierte den Krieg schließlich, in dem er ein Telegramm, welches der preußischen König nach Frankreich verschickte, so im Ton verschärfte, dass diese in der französischen Öffentlichkeit "eine Riesenwut auslöste, weil der Ton so heftig war", sagt Hoyer. Hintergrund war die Forderung Frankreichs, dass König Wilhelm als Oberhaupt der Hohenzollern versichern sollten, dass sich kein Kandidat aus ihrem Hause jemals für den spanischen Thron zur Verfügung stellen würde. "Nach diesem Telegramm konnte der französische König, Napoleon III., gar nicht anders", so Hoyer. "Es war soviel Druck in Frankreich, dass gesagt wurde, man muss jetzt diesen Krieg vom Zaun brechen."

Beim Waffengang gegen den westlichen Nachbarn griffen die deutschen Staaten laut Hoyer dann auf den Mythos der Befreiungskriege gegen Napoleon I. zurück. Die Gewissheit, dass sie sich durchsetzen können, wenn sie sich gegen einen Feind von außen zusammenschließen. "Es geht hier wieder zusammen gegen Frankreich. Dieser etwas defensive Nationalismus, den man da entstehen lässt, ist natürlich keine gute Grundlage unbedingt, um einen dauerhaften Staat aufzubauen. Aber es hat in dem Moment funktioniert, um das Reich zu vereinigen."

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Wilhelm I.: Hader mit der Kaiserkrone 

Mit der Krönung von Wilhelm I. zum deutschen Kaiser am 18. Januar 1871 in Versailles war die Gründung des Deutschen Reiches besiegelt. Wobei der betagte preußische Monarch am Tag vor der Krönung fast noch einen Rückzieher gemacht hätte, so sehr haderte er mit seiner ungewohnten Rolle bei dem neuen Riesenprojekt. "Doch Bismarck hat gesagt: Mach dir da nichts draus, ich übernehme und leite das für dich", erzählt Hoyer. "Damit hat er sich ziemlich unentbehrlich gemacht: Erst als Ministerpräsident von Preußen, dann als erster deutscher Kanzler für das gesamte Reich." Bis 1890 leitete er die Geschicke des Reiches, führte etwa den modernen Sozialstaat ein und ließ Deutschland, wenn auch nach anfänglichem Zögern, in den Wettstreit der Großmächte um den Erwerb von Kolonien eintreten - mit Folgen, die bis heute reichen. 

Mit Wilhelm II. bekam Bismarck ein Problem 

"Das Problem für Bismarck war, dass irgendwann der Enkel von Wilhelm I., nämlich Wilhelm II., an die Macht kam", erklärt Hoyer. "Bismarck hatte eine Verfassung geschaffen - mit einem Chef sozusagen, der theoretisch zumindest der Kaiser ist, und einer Verwalter-Figur des Kanzlers, die er eingenommen hatte. Aber das System hat nur funktioniert , wenn einer der beiden etwas in den Hintergrund tritt und der andere den Ton angibt. Aber weder Bismarck noch Wilhelm II. waren Männer, die einem anderen die Führungsrolle überlassen hätten." Die Konflikte der beiden Alphamänner arteten zwischen 1888 und 1890 so aus, dass der Reichskanzler am Ende zum Rücktritt gezwungen war. 

Für Platz in der Geschichte: Tagelange Arbeit an der Rücktrittsrede

Sehr bezeichnend ist für Historikerin Katja Hoyer, wie lange Otto von Bismarck an seiner Rücktrittsrede schrieb: "Eigentlich war Bismarck sehr wortgewandt und hat immer ziemlich schnell seine Reden und seine Briefe fertig gehabt. Aber an dieser Rede hat er wirklich tagelang gesessen. So wollte er für die Geschichte festhalten, dass es nicht seine Schuld ist, wenn jetzt irgendetwas Schreckliches passiert." 24 Jahre später brach der Erste Weltkrieg aus, der schließlich das Ende des von ihm konstruierten Reiches bedeutete.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | DAS! | 05.03.2024 | 18:45 Uhr

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