Otto von Bismarck: Vom Kanzler zur Kultfigur
Schon zu Lebzeiten wurde der Eiserne Kanzler zur Legende, dem Denkmäler und sogar ein Hering gewidmet wurden. Wie kam es dazu und was ist von Bismarck heute geblieben?
Fast 10.000 Telegramme, 450.000 Postkarten und Briefe sowie mehrere Tausend Pakete: In den Tagen rund um den 1. April 1895 erreicht das Postamt von Friedrichsruh im Sachsenwald eine Flut von Glückwunschschreiben. 23 zusätzliche Mitarbeiter sind nötig, um die Post zu bearbeiten, mit der Anhänger aus aller Welt dem ehemaligen Reichskanzler Otto von Bismarck zu seinem 80. Geburtstag gratulieren.
Friedrichsruh wird zum "Wallfahrtsort"
Der kleine Ort, in dem Bismarck seinen Altersruhesitz hat, steht in diesen Tagen Kopf: 35 Sonderzüge mit 50 Delegationen aus dem In- und Ausland reisen zu Ehren des Jubilars an, 5.000 Studenten strömen nach Friedrichsruh, um dem Politiker zu huldigen. Anlässlich seines runden Geburtstags werden Bismarck 450 Ehrenbürgerschaften verliehen - zusätzlich zu den bereits 45 bestehenden. Schon zu Lebzeiten ist der ehemalige Reichskanzler eine Legende.
Vom Reichskanzler zur lebenden Legende
Mit dem Tod des Eisernen Kanzlers im Jahr 1898 nimmt die Bismarck-Verehrung endgültig kultische Züge an. Keinem Politiker und keinem Dichter oder Denker sind je mehr Denkmäler gewidmet worden. Tausende Straßen, Plätze, Apotheken und Hotels, ganze Stadtteile und sogar Städte werden nach ihm benannt. Auch in den deutschen Kolonien und in Ländern mit hohem Anteil deutscher Einwanderer werden Standbilder errichtet.
Kult um den Kanzler
In Deutschland werden rund 700 Bismarck-Denkmäler geplant, mindestens 500 auch realisiert, die meisten in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg und fast alle aufgrund privater Initiativen und nicht etwa von staatlicher Seite. Der Bismarck-Kult bleibt nicht auf Bauwerke beschränkt, sondern wirkt mitten hinein in den Alltag: Gurken, Äpfel, Zigarren, Bäume und nicht zuletzt die berühmten Heringe werden nach dem Reichskanzler benannt.
Um die Jahrhundertwende trägt die Verehrung für den "Eisernen Kanzler" geradezu religiöse Züge. In Deutschland entstehen insgesamt 240 Bismarck-Türme, 146 sind bis heute erhalten. Viele von ihnen sind Aussichtstürme, andere sogenannte Feuersäulen, auf deren Spitze an Feiertagen oder auch zu Bismarcks Geburtstag ein weithin sichtbares Feuer entfacht wurde.
Zum nationalen Symbol verklärt
Dabei sah es zunächst nicht so aus, als eigne sich der erste Reichskanzler zur Kultfigur. "Als Bismarck 1890 ging, waren viele froh, weil ihnen seine auf Europa fokussierte Politik nicht gefiel. Aber etwa zwei Jahre nach seiner Entlassung ging die Bismarck-Verehrung los", erklärt der Historiker Maik Ohnezeit, Museumspädgoge bei der Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh. Im Rückblick, so Ohnezeit, erschien nun vielen Bismarcks Kanzlerschaft als Zeit vorbildlicher Regierungskunst - insbesondere, als deutlich wird, dass der neue Kaiser Wilhelm II. die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt.
Nazis nutzen den Kult um den Eisernen Kanzler
"In den Jahren nach seiner Entlassung entwickelt sich Bismarck zum Symbol für Nation und Reich", so Ohnezeit. Nach seinem Tod vereinnahmt ihn vor allem das bürgerlich-national gesinnte Lager und überhöht ihn zum mythischen Übervater der deutschen Nation.
Auch die Nationalsozialisten nutzen den Kult um den Eisernen Kanzler für ihre Zwecke. Bewusst knüpften sie an die bereits im Bismarck-Mythos verankerte Vorstellung, dass eine Führerfigur - und nicht etwa ein demokratisches Parlament - das deutsche Reich zu alter Größe und Bedeutung führen werde. "Hitler nutzte die Sehnsucht nach einem starken Mann und stilisierte sich zum Vollender des Bismarckschen Werks. Der Eiserne Kanzler wurde zum Lockmittel für das rechte, patriotisch gesinnte Bürgertum", erklärt Ohnezeit.
Bis heute polarisiert der "Eiserne Kanzler"
Heute stehen noch immer viele der ihm gewidmeten Denkmäler und Bauwerke - doch vom Bismarck-Kult ist nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr viel übrig geblieben. Die Überhöhung ist einem kritischen, aber keineswegs gleichgültigen Blick gewichen: Die einen sehen in ihm einen antidemokratischen Machtpolitiker und "Sozialistenfresser", die anderen einen großen Staatsmann. Ein übereinstimmendes Urteil haben die Historiker bis heute nicht gefällt.