98-jähriger Holocaust-Überlebender: Unterwegs gegen das Vergessen

Stand: 02.02.2024 20:33 Uhr

Albrecht Weinberg, 98, hat Bergen-Belsen und Auschwitz überlebt. In seinem Buch "Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm", das am 14. Februar erscheint, erzählt er von seinem Glauben an das Gute.

von Barbara Block

Eine Demo gegen Rechts in Leer: Albrecht Weinberg feiert demnächst seinen 99. Geburtstag und ist mittendrin. Er hat den Holocaust knapp überlebt, seine Kindheit und Jugend in Arbeitslagern verbracht: Auschwitz, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Bei der Befreiung wiegt er noch 29 Kilogramm.

"Ich habe nicht gewusst, wo meine Eltern sind, wo mein Bruder ist. Das kann man keinem normalen Menschen erklären. Allein schon, was man mit uns gemacht hat: Man hat uns was zu essen gegeben - das war nicht genug zum Leben und zu viel zum Sterben."

"Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm"

Als der Journalist Nicolas Büchse von Weinbergs Schicksal erfährt, treffen sie sich und sind sofort per Du. In stundenlangen Gesprächen vertraut Albrecht ihm sein Leben an. "Das erste Mal, als ich Albrecht begegnete, hatte ich so eine Scheu: Da ist ein Holocaust-Überlebender vor mir", erzählt Büchse. "Ich hatte einen Kloß im Hals, weil ich mich getraut habe, eine Frage zu stellen, die ich immer schon auf der Zunge hatte und anderen Holocaust-Überlebenden nie gestellt hatte: 'Albrecht, was wird eigentlich mit all diesen Erinnerungen, wenn du nicht mehr da bist?' Da hat Albrecht gesagt: 'Dann musst du deinen Kindern von mir erzählen.'" Erinnerungen, die Albrecht Weinberg nie mehr loslassen: "Damit die Erinnerung nicht verblasst wie die Nummer auf meinem Arm" heißt auch das Buch.

Damit der Holocaust niemals in Vergessenheit gerät, geht Albrecht Weinberg an Schulen und erzählt. "Ich wollte nie über meine Vergangenheit reden, aber als ich wieder nach Deutschland kam, habe ich den jungen Leute in den Schulen erzählt: Macht den Mund auf, lasst euch nicht einschüchtern! Es könnte wiederkommen oder es ist schon so weit. Da ist was in der Luft."

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Albrecht Weinberg überlebte Auschwitz und Bergen-Belsen

Albrecht ist 18 als er im Lager Auschwitz-Monowitz landet. 700 Menschen aus seinem Transport werden direkt in die Gaskammern geschickt. Er selbst muss für die "I. G. Farben" schuften. Eines Tages steht er beim Appell seinem Bruder gegenüber. "Wenn ich Dieter nicht gehabt hätte, würde ich hier heute nicht sitzen", erzählt Weinberg. "Er hat mir gesagt: 'Suche dir einen kleinen Kieselstein und nimm den in den Mund als Bonbon. Dann fühlst du den Durst nicht so.' Das habe ich auch gemacht."

Albrecht Weinberg denkt auch an Selbstmord. Noch zwei Jahre muss er unfassbaren Hunger, Schläge, Demütigungen ertragen - er ist mehr tot als lebendig - als Bergen-Belsen befreit wird. "Nach der Befreiung habe ich so einen Hass in mir gehabt. Wenn ich eine Kanone gehabt hätte, hätte ich ganz Deutschland kaputt schießen können. Wir wollten nur raus aus Deutschland", sagt Weinberg.

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Das Bild zeigt Schülerin Anke Chudzinski-Schubert und den Holocaustüberlebenden Albrecht Weinberg in einer Interviewsituation. © Gymnasium Rhauderfehn

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Neuanfang in New York

Irgendwo im zerbombten Deutschland findet Albrecht Weinberg seine Schwester Friedel wieder. Sie gehen gemeinsam nach New York. Die beiden schwören sich, nie im Leben jüdische Kinder in die Welt zu setzen - zu groß ist das Trauma. "Ich habe keine Arbeit gehabt. Ich konnte kein Wort Englisch. Ich gehe auf der Straße und sehe ein Schild 'Boy wanted'. Da hat er mich für 25 Dollar die Woche angenommen", erzählt Albrecht Weinberg. "Das war genug zum Leben. Wir waren auch mit einem alten Brötchen zufrieden. Wir waren nicht verwöhnt und sind langsam auf die Füße gekommen."

Albrecht Weinberg hat den Todesmarsch nach Bergen Belsen überlebt. Seinen Judenstern hat er aufgehoben. © NDR Foto: Birgit Schütte
AUDIO: Albrecht Weinberg berichtet über seinen Todesmarsch (3 Min)

Rückkehr nach Ostfriesland

Albrecht kauft mit einem Freund einen Fleischerladen am Broadway in Harlem. Auch seine Schwester findet einen Job. Nach außen scheint die Welt in Ordnung. Zurück nach Deutschland, ins Land der Täter, wollten beide nie. Als Albrechts Schwester schwer erkrankt, kehren sie 2012 doch in die Heimat nach Ostfriesland zurück. Sie stirbt, Albrecht bleibt im Seniorenheim. Dort lernt er die Altenpflegerin Gerda kennen - eine Freundschaft entsteht. Seit drei Jahren leben sie in einer WG. "Es ist für mich marvelous [fantastisch]. Es ist unglaublich, dass ich meine letzten paar Wochen oder Jahre noch so verbringen kann. Das ist nicht zu glauben", sagt er.

Albrecht Weinbergs Schicksal ist eine zutiefst erschütternde Geschichte, die uns alle aufrütteln sollte. "Ich glaube, dass man sehr viel aus Albrechts Lebensgeschichte lernen kann", meint Nicolas Büchse. "Es gibt da ein Zitat von Elie Wiesel: 'Wer heute Zeugen zuhört, wird morgen selbst Zeuge.' Da steckt viel drin. Es ist dieser Satz, den wir als nachfolgende Generation beherzigen können."

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Albrecht Weinberg - hat den Todesmarsch nach Bergen Belsen überlebt. © NDR Foto: Birgit Schütte
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | NDR Kultur - Das Journal | 05.02.2024 | 22:45 Uhr

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