NDR Buch des Monats September: "Verlassene Nester" von Patricia Hempel
Patricia Hempels Wendezeit-Roman "Verlassene Nester" spielt kurz nach der Wende in einem fiktiven Ort bei Magdeburg. Ihr gelingt ein umfassendes Panorama von Menschen, die zutiefst verunsichert sind.
Es ist 1992. Die Elbe ist nicht weit. Pilly lebt in einem Ort, dessen Industrie nach der Wende ganz unsentimental abgewickelt wird. Auch ihre Familie ist zerfallen, der Vater trinkt, die Mutter ist weg. Die introvertierte Pilly verbringt viel Zeit mit der selbstbewussten Katja. Pilly bemerkt Gefühle an sich, die sie zunächst nicht einordnen kann. Sie verliebt sich in Katja. Und die scheint auch nicht abgeneigt. Sie gehen in der Elbe schwimmen.
Ich tauchte so langsam wie möglich auf Katjas Beine zu, und je näher ich ihnen kam, desto heftiger schlug es hinter meiner Brust. Leseprobe
Trotzdem kann Pilly die letzte Hemmung nie überwinden. Auch weil Katja sich schließlich doch in einen Jungen verliebt. Es ist eine Zeit der großen Verwirrung. "Sie ist in diesem Ort isoliert, in ihrer Familie isoliert, in der Schule wird sie gemobbt. Diese Isolation führt auch zu diesem großen Wunsch, Anschluss zu finden", sagt Autorin Patricia Hempel über Pilly. Sie beschreibt ihre Heldin sehr intim und mit viel Feingefühl.
"Verlassene Nester": Roman mit aktueller Relevanz
Das junge Mädchen hat zwar Erwachsene in ihrem Leben, aber die sind mit sich selbst beschäftigt. Das thematisiert der Roman durch Perspektivenwechsel. Während Pilly eine Ich-Erzählerin ist, werden ihr Vater, ihre Tanten, die Nachbarn von einem allwissenden Erzähler beschrieben. Sie bewegt vor allem das, was sie als Bedeutungsverlust ihrer Gemeinschaft wahrnehmen. So beschreibt es der Vater von Pillys Schwarm Katja am Stammtisch, Herr Bergmann.
Bergmann glaubte noch immer an die Souveränität seines Landes und wurde nie müde, (…) zu erklären, dass nicht die Bürger eingeknickt waren, sondern der Pleiterusse mit seinem Übermut. (…) Gute Politik verrät sich nicht und gibt nicht nach (…), fügte Bergmann hinzu und stellte in den Raum, dass das letzte Wort längst nicht gesprochen war. Leseprobe
Das gibt "Verlassene Nester" natürlich eine aktuelle Relevanz, denn in Thüringen und Sachsen hat man gerade gesehen, dass Unzufriedenheit und ein gefühlter Bedeutungsverlust Menschen an politische Ränder treibt. Patricia Hempel findet für die Verunsicherung ein Bildnis im Roman, in dem es um eine Gartenfläche geht, die nun weichen soll. Veränderung, die über die Menschen hereinbricht: "Die Vertreibung aus dem Paradies ist auch, was dieser Ort oder die Einwohner des Ortes mit der DDR in Verbindung setzen. Dass sie aus dieser Utopie, dieser sicheren Zone mit ewiger Arbeitsbeschäftigung und keinen Problemen getrieben werden."
Glaubwürdige Geschichte, die einen nachdenklich zurück lässt
Patricia Hempel beschreibt gewaltige Umwälzungen in der Gesellschaft, parallel zu den persönlichen ihrer Heldin Pilly. So gelingt ihr ein umfassendes Panorama von Menschen, die zutiefst verunsichert sind. Das ist sehr empathisch beschrieben. In klarer Sprache und hochunterhaltsam. Dass der Roman dabei keine Lösungen für die Probleme anbietet, ist gut. So wird er wahrhaftig und glaubwürdig. Und lässt einen nachdenklich zurück.
Verlassene Nester
- Seitenzahl:
- 304 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Tropen
- Bestellnummer:
- 978-3608502237
- Preis:
- 24 €