Zum Tod von Paul Auster: "Ein hinreißend guter Geschichtenerzähler"
Der US-Schriftsteller Paul Auster ist tot. Der Autor der "New-York-Trilogie" erlag den Folgen einer Krebserkrankung. Wie sein deutscher Verlag Rowohlt bestätigte, starb er am 30. April im Alter von 77 Jahren. Ein Gespräch mit dem NDR Literaturexperten Alexander Solloch.
"Nun habe ich verstanden, was Anmut bedeutet", schrieb Siri Hustvedt, die berühmte Schriftstellerin, vor ein paar Monaten auf Instagram. Sie schrieb über ihren Ehemann, den nicht minder berühmten Literaten Paul Auster, mit dem sie, in ihren Worten, gemeinsam durch "Cancerland" ging, durchs "Krebsland". Der letzte gemeinsame Weg, wie ging er ihn? "Unerschütterlich, ohne Klage, intakter Humor", schrieb Hustvedt, und: "Er hat aus dem Jahr seiner Krankheit eine schöne Zeit gemacht." Nun ist Paul Auster dem Krebs erlegen. Ein Gespräch mit Alexander Solloch aus der NDR Kultur Literaturredaktion.
Das ist ein schmerzlicher Verlust für die Literatur insgesamt, oder?
Alexander Solloch: Ein immenser Verlust, natürlich. Vermutlich muss man sagen, dass man ihn hat erwarten und sich darauf einstellen müssen, weil seine schwere Krankheit bekannt war; aber erstens will man sich ja nie auf so etwas einstellen, und zweitens hat sich Paul Auster ja nie zurückgezogen aus dem literarischen Betrieb, er hat bis zum Schluss geschrieben: Erst im vergangenen Herbst ist sein kleiner Roman "Baumgartner" erschienen und noch vor drei Monaten sein Essay "Bloodbath Nation" - also, es waren immer Geschichten in ihm, von ihm gingen immer und bis zum Schluss Anstöße aus, mit ihm und seinem verschmitzten Lächeln war eigentlich immer zu rechnen, so dass die Nachricht von Paul Austers Tod nur schwer zu akzeptieren ist.
Nun war er - so meine Beobachtung aus der Ferne nach Lektüre und Betrachtung vieler Interviews - ein sehr lustiger, durchaus zur Selbstironie und kaum zur Selbstverliebtheit begabter Mensch, dem die im Literaturbetrieb so üblichen Superlative ziemlich lachhaft vorgekommen sein müssen. Also sage ich nicht: "Er war einer der größten Erzähler unserer Zeit" oder etwas in der Art, stattdessen sage ich: Paul Auster war ein hinreißend guter Geschichtenerzähler. Davon gibt es nicht so viele.
Was waren Paul Austers Themen, was hat seine Bücher so besonders gemacht?
Solloch: Im Prinzip erzählt Paul Auster individualisierte amerikanische Geschichte der jüngeren Zeit, erzählt, was passiert, wenn Geschichte auf ganz normale Menschen trifft. Wer also wissen will, wie in den USA (speziell in New York, dem Ort der "Heimatlosen, Gestrandeten"), seit dem Zweiten Weltkrieg gelebt, gefühlt, geliebt worden ist - der wird sehr viel Material in seinen Romanen, seinen Essays, seinen Drehbüchern, vielleicht auch in seinen Gedichten finden. Wobei er die jüngste Geschichte in einen viel größeren Zusammenhang stellt, wenn er sich immer wieder fragt: Woher kommt die Gewalt in unserem Land? Welche Kontinuitäten gibt es seit der Kolonisierung Amerikas vor über 500 Jahren? Darum geht es ja explizit in seinem letzten Buch, "Bloodbath Nation", in dem er sich nahezu verzweifelt die Frage stellt, warum es gerade in den USA und nirgendwo sonst dieses Ausmaß an Gewalt mit Schusswaffen gebe und warum die Nation insgesamt sich dagegen sperre, dieses Problem zu lösen, obwohl es doch gar nicht unlösbar sei.
Diese Frage und all die um sie kreisenden Gedanken spielen natürlich auch in seinen Romanen eine Rolle: Gewalt, die immer und aus heiterem Himmel zuschlagen, deren Opfer man ganz und gar zufällig werden kann. Wie man überhaupt sagen muss, dass der Zufall in seinen Romanen oft eine der zentralen Hauptfiguren ist. Ein Kritiker hat Paul Auster einmal den "Zeremonienmeister des Zufalls" genannt, weil er sich eben immer wieder diese eine Frage gestellt hat, die doch wohl uns alle fasziniert und seltsam berührt, die Frage: "What if…?" – also: "Was wäre gewesen, wenn ich an dieser Biegung nach links statt nach rechts abgebogen wäre?" usw.
Sehr konsequent ausbuchstabiert hat Paul Auster das in seinem großen, seinem (mindestens physisch) gewichtigsten Roman "4 3 2 1", der 2017 erschienen ist, zu seinem 70. Geburtstag. Hier erzählt er in vier Variationen das Leben eines jungen Amerikaners: In jeder Version hat er denselben Charakter, aber aufgrund einzelner Ereignisse - Zufälligkeiten - lebt er jedes Mal ein komplett anderes Leben, jedenfalls bis zum 20. Lebensjahr, weiter erzählt Auster jeweils nicht. Zur Begründung sagte er damals: "Nach dem 20. Lebensjahr entwickelt sich der Mensch kaum noch weiter; bis dahin aber ist Leben nichts außer permanenter Veränderung", und er fügte, wahrscheinlich gewitzigt durch seine Erfahrungen als Vater zweier Kinder, hinzu: "Jugendliche verwandeln sich wöchentlich in komplett andere Menschen". Wohl auch deshalb hat er es - nach dem, was seine Frau Siri Hustvedt berichtete - als so schmerzlich empfunden, auf der Krebsstation so viele junge Menschen zu treffen, während er ja darauf zurückblicken konnte, ein langes erfülltes Leben gehabt zu haben. Ein Leben natürlich mit heftigen Schlägen: Vor zwei Jahren musste er den Drogentod seines Sohns Daniel und den Tod seiner von Drogen vergifteten Enkeltochter Ruby verkraften, wenn sich so etwas überhaupt verkraften lässt. Da denkt man an die Devise des Protagonisten in seinem Roman "Nacht des Orakels": "Schreiben, um gegen das Elend anzugehen."
Man hätte sich gut vorstellen mögen, dass er vielleicht noch zehn, fünfzehn Jahre bleibt und uns noch zwei, drei weitere Bücher schenkt. Was, würdest Du sagen, ist Paul Austers Vermächtnis?
Solloch: Da kann man natürlich auf die Schnelle und unter dem Eindruck dieses traurigen Ereignisses natürlich noch nichts allzu Gehaltvolles sagen, letztlich werden das seine Biographen beantworten müssen, von denen es sicher einige geben wird - vielleicht sogar eher deutsche als etwa amerikanische, denn Paul Auster hatte in den USA gar nicht die riesige Prominenz wie etwa bei uns in Deutschland. Vielleicht ist er in den USA sogar auch als eher europäischer Autor wahrgenommen worden, jedenfalls hat er sich intensiv mit der europäischen Literatur auseinandergesetzt, sich selbst als stark beeinflusst gezeigt von Autoren wie Samuel Beckett, Franz Kafka, Knut Hamsun, auch von Paul Celan. Von ihm bleiben werden als Vermächtnis knapp 20 Romane, in denen er zu ergründen versucht, was diese Kuriosität zu bedeuten hat, die darin besteht, dass man ein Mensch ist - eine faszinierende, seltsame, kaum je verständliche Kuriosität. Dies sind Bücher - man kann das beispielhaft an seiner New York-Trilogie studieren -, die formal weitgehend traditionell geschrieben und damit vordergründig auch leicht zugänglich sind, inhaltlich aber auf verwickelte Weise spielen mit den Erwartungen der Leserschaft, die immer wieder übers Ohr gehauen wird. Also: einfaches, anspruchsvolles Erzählen - Auster konnte das.
Ja, und dann ist für viele sicherlich auch die Liebesgeschichte seines Lebens inspirierend, die 40 Jahre Ehe mit Siri Hustvedt. Paul Auster sagte mal: "Wenn wir noch hundert Jahre zusammenlebten, würden wir ein und dieselbe Person werden." In seinem letzten Roman muss der Protagonist Baumgartner damit klarkommen, dass seine Frau nach so langer gemeinsamer Zeit verstorben ist. Wie geht das: "damit klarkommen"? Er schreibt ihr immer wieder Briefe mit Witzen, die sie sich früher gern erzählt haben, schickt den jeweiligen Brief ab, natürlich an die gemeinsame Adresse, und holt ihn am nächsten Tag aus dem Briefkasten - voller Freude.
Das Gespräch führte Franziska von Busse.