"Wir verlieren unsere Kinder!": Cybermobbing im Klassenzimmer
Haltung zeigen: Schulleiterin Silke Müller erzählt im Interview vom verstörenden Alltag im Klassen-Chat und wie Eltern ihren Kindern beim Umgang mit Medien helfen können.
Den Kopf gebeugt, die Augen magnetisch auf den kleinen, rechteckigen Kasten gerichtet. Was beschäftigt Kinder und Jugendliche, wenn sie unentwegt auf ihr Handy gucken? Welche Videos schauen sie an, welche Fotos verschicken sie, welche Texte lesen sie? Kennen Eltern den Cyber-Alltag ihrer Kinder? Wissen sie, dass bereits Grundschulkinder Bilder mit rassistischen Botschaften, von Kriegsverbrechen oder sexualisierter Gewalt sehen?
Silke Müller weiß um die digitalen Bedrohungen, denen Mädchen und Jungen ausgesetzt sind. Als Leiterin der Waldschule in Hatten (Landkreis Oldenburg) und niedersächsische Digitalbotschafterin kämpft sie für eine ethische und demokratische Werteerziehung - auch und vor allem in der digitalen Welt. In ihrem Buch "Wir verlieren unsere Kinder!" berichtet sie vom verstörenden Alltag im Klassen-Chat und appelliert an Eltern und Politik, nicht länger wegzusehen, sondern die Brisanz und Gefahr, die von sozialen Netzwerken ausgehen können, zu erkennen.
Sie sind mit Leib und Seele Pädagogin und seit 20 Jahren im Schuldienst, davon zehn Jahre in einer Leitungsfunktion. Wann haben Sie gemerkt: Da ändert sich etwas mit den Kindern?
Silke Müller: Im Grunde genommen ist es mit der Entwicklung der sozialen Netzwerke gewesen. Man kann sagen, je mehr Smartphones in die Hände der Kinder fielen, umso mehr hatten wir eine Problematik mit Mediensucht und Spielsucht. Später kamen noch Instagram und Facebook dazu. Da haben wir gemerkt, dass Probleme völlig neuer Art kommen. Vor ungefähr zehn, elf Jahren kamen Schüler zu mir, die sagten: 'Da hat jemand ein Instagram-Profil von mir gefälscht'. Es wurden Fotos, Daten und Namen hochgeladen, einfach um jemanden fertigzumachen und bloßzustellen. Das waren die Anfänge. Seit es die Möglichkeit gibt, mit Smartphones zu fotografieren und Videos zu erstellen, also ganz leicht Inhalte herzustellen, hat sich zum einen das verändert, zum anderen aber auch, dass sich dieses Miteinander verändert. Das sehen Sie alle auf der Straße, wenn man den Kopf runter hält.
Das betrifft nicht nur die Kinder, sondern vor allem die Erwachsenen, wie Sie auch schreiben. Denn letztlich sind es die Erwachsenen, die die verstörenden Inhalte ins Netz stellen.
Müller: Ich finde es wirklich nicht gut, dass wir immer sagen, die Kinder, die daddeln nur, und die sind nur an den Geräten. Da muss man sich immer fragen, wer hat ihnen diese Geräte gegeben? Wer hat diesen Zugang geschaffen? Wer gibt ihnen die neueste Spielekonsole in die Zimmer? Das sind nicht die Kinder, das sind die Erwachsenen. Man muss sich fragen, wer hat diese Plattform geschaffen, wer ist ein Beispiel für den Inhalt und wie verkauft man sich im Netz? Das sind in erster Linie Erwachsene. Manchmal denke ich mir, dass Kinder teilweise schon mehr moralischen Anstand haben und versuchen, ein Gewissen zu entwickeln, was gut und was schlecht ist, als wir Erwachsenen. Die schlechtesten Vorbilder, die in diesem Punkt der Erziehung unterwegs sind, sind wohl wir Erwachsenen.
Auf Eltern kommt es an, die auch eine Haltung zu Themen entwickeln.
Müller: Ich glaube, dass ist tatsächlich das Grundproblem, was Sie ansprechen, diese fehlende Haltung und das fehlende Bewusstsein dafür, was diese digitale Welt anrichten kann. Ich bin Digitalbotschafterin, ich sehe ganz viele positive Aspekte, und ich nutze Social Media. Ich nutze alle Netzwerke, um mich zu verbinden, um ein Netzwerk zu schaffen, um kreativ zu sein. Aber wir tun oft so, als wenn wir wüssten, was im Netz los ist, und bedienen uns plattitüdenhafter Wörter: Rassismus, Gewalt, Intoleranz, Folter, Pornografie. Am Ende wissen wir aber bildlich nicht, was sich wirklich dahinter verbirgt, weil wir im Netz sind und möglicherweise Schminkvideos sehen, Videos von Tieren, Videos vom nächsten Urlaub oder wofür wir uns gerade interessieren.
Wenn Sie von der Haltung sprechen, dann glaube ich, ist es die Haltung, dass wir nicht nur Kindern verbieten und nicht nur sagen, ich habe so viel Filtereinstellungen auf dem Handy meines Kindes, da kann gar nichts passieren. Sondern wir sollten in die Welt der Kinder eintauchen und ihnen bewusst sagen: 'Mein liebes Kind, das ist eine ganz schlimme Autobahn, auf der du unterwegs bist. Ich versuche, dich zu begleiten. Ich versuche, Regeln aufzustellen, an die du dich leider halten musst, weil ich dich beschützen will, aber ich weiß auch, dass viel schieflaufen kann. Komm zu mir, wenn was ist.' Denn wenn wir bei dem Thema Haltung sind, ist die schlimmste Haltung, die man haben kann, zu sagen: Also, mein Kind macht das nicht.
Das Gespräch führte Martina Kothe.