Wie aktuell ist der Schriftsteller Uwe Johnson?
Die "Jahrestage" von Uwe Johnson sind ein Jahrhundertwerk, ein einzigartiges Zeitdokument und trotzdem zeitlos. Charly Hübner und Caren Miosga haben das Mammutwerk als Hörbuch veröffentlicht und bringen es als szenische Lesung auf die Bühne.
Ein Mann mit Mut zu Selbstreflexion und großer Sprachkunst - Uwe Johnson, 1970 in New York: "Manchmal bin ich so müde, dass ich genauso unordentlich rede wie ich denke. Ich finde das nicht ordentlich, wie ich denke." Aber er hat ein sehr ordentliches Mammutwerk mit rund 2.000 Seiten hinterlassen: "Jahrestage".
Uwe Johnson als Chronist
Da müssen der Schauspieler Charly Hübner und die Moderatorin Caren Miosga in Auszügen durch. "Ich habe es das erste Mal mit 19 gelesen. Da habe ich anderthalb Jahre gebraucht", erzählt Charly Hübner. "Das ist schnell. Wenn man es nach zehn oder 30 Jahren nochmal liest, ist es immer wie ein neues Erlebnis. Das ist der Versuch, Gesellschaft, Leben, Politik und inneres Sein in ein Dokument zu fassen, damit man in 150 Jahren ein bisschen wie bei Homer und Balzac sagen kann: So war das in der Zeit."
"Ich finde, es ist verrückt, dass er als solcher Chronist, als den du ihn beschreibst, gar nicht anerkannt ist und dass viel zu wenig Leute ihn kennen", findet Caren Miosga.
"Ihr Name ist Gesine L. Cresspahl?"
"Ja."
"Haben Sie früher mal einen anderen Namen geführt?"
"Ja."
"Diente der Name dazu, ein bestehendes Gesetz zu umgehen?"
"Ja."
Bühnenzitat
Verhör bei der Einreise. Hauptfigur Gesine Cressphal zieht 1953, nach dem sogenannten Volksaufstand, von Mecklenburg nach New York. Sie wird Angestellte einer Bank - damals eine Männerdomäne.
"Jetzt nimm einmal an, du kommst tatsächlich auf die Teppiche dort oben, unter die jungen Herren in feierlicher Kleidung."
"Eine Frau als Direktor in einer Bank? Das Kalb mit den sieben Köpfen. Das wäre ja gerade was für die New York Times."
"Gesine, lass das jetzt!"
Bühnenzitat
Von Mecklenburg nach New York
New York, neue Welt - und Mecklenburg, alte Welt. Das ist auch der ungewöhnliche Spannungsbogen in Uwe Johnsons Leben. Seine Kindheit in Anklam und Güstrow wird im Roman zum fiktiven Dorf Jerichow. Enttäuscht von der DDR-Regierung, geht Johnson zuerst nach West-Berlin und dann nach New York.
Für Charly Hübner, der auch aus Mecklenburg stammt, war Johnson eine Entdeckung: "Ich kriegte erst in der Befassung damit mit: Wie, der ist Mecklenburger? Was ist das für ein schräger Kram? Der hat in New York gelebt? Heidewitzka, cooler Typ", sagt Hübner. "Da war die DDR gerade mal zehn Jahre alt, da ist der weg. Die haben natürlich alles versucht, den totzumachen. Das ist ihnen gelungen. Ich kannte den nicht. Man kannte Helmut Sakowski und Günter Göring, aber Uwe Johnson war ein toter Autor in der DDR."
Szenische Lesung mit Caren Miosga und Charly Hübner
Mit nüchterner Sprache und faktischer Beobachtung reflektiert Johnson seine New-York-Zeit: die Ereignisse eines Lebens und den Lauf der Geschichte. Schlicht und doch ergreifend.
"23. August 1967, Mittwoch. Die Luftwaffe flog gestern 132 Angriffe auf Nordvietnam."
"5. April 1968, Freitag. Gestern Abend wurde Martin Luther King in Memphis erschossen."
"10. Mai 1968, Freitag. Die Regierung der DDR, sie mischt sich nicht ein in die inneren Sachen unabhängiger Staaten."
Bühnenzitat
1968 liegt in Prag der Einmarsch der russischen Armee in der Luft, wie schon 1956 beim Ungarn-Aufstand. Ewig her - und doch so nah kommt einem Johnson heute wieder.
"Brief genügt, komme sofort. Die Rote Armee ist bereit, ihre Pflicht zu tun."
"Sie werden es nicht tun."
"Sie sind in Ungarn einmarschiert, 1956."
"Sie werden nicht mit Panzern nach Prag gehen, nicht 12 Jahre nach Budapest."
Bühnenzitat
"Wie war das denn am 23. Februar 2022, als ich in diesem Nachrichtenstudio stehe und mit der Korrespondentin in Russland rede? Die sagt zu mir: 'Nee, ganz sicher, wir trauen dem alles zu, aber das macht er nicht.' Oh - es ist passiert. Das ist heute der Spiegel mit der Ukraine", erklärt Miosga. "Das ist wirklich beängstigend und gruselig. Man kann nur dazu ermutigen, sich da reinzudenken und sich langsam vorzugraben, weil es wirklich großartig ist, wie er das montiert - die verschiedenen Zeiten, diese verschiedenen Ebenen. Also lesen!"
Oder auf der Bühne angucken! Uwe Johnsons "Jahrestage" - das immer noch zu entdeckende Jahrhundertwerk. Was würde er zu unserer Zeit heute sagen?