Geschichte einer Desillusionierung
In der zweiten Staffel der Wissensreihe "Große Romane der Weltliteratur" streifen wir in 25 neuen Folgen durch die Geschichte des Romans von den Anfängen bis in die Gegenwart. In dieser Folge dreht sich alles um Uwe Johnsons "Jahrestage".
Von Hanjo Kesting
Uwe Johnson, der in Pommern geborene und in Mecklenburg aufgewachsene Schriftsteller, arbeitete in den letzten anderthalb Jahrzehnten seines Lebens an seinem großen vierbändigen Roman "Jahrestage", den er nach persönlichen und schriftstellerischen Krisen kurz vor seinem Tod noch abschließen konnte. Er gehört zu jenen Büchern, um die sich bald schon, noch bevor sie vollendet sind, Mythen bilden. Drei Bände der Tetralogie erschienen in rascher Folge, dann unterbrach Johnson die Arbeit für acht lange Jahre, so dass man bereits befürchtete, der Roman würde ein gewaltiges Fragment bleiben. Doch dann wurde er doch noch vollendet, sechzehn Jahre nachdem der Autor daran zu schreiben begonnen hatte.
Die "Jahrestage", die vier Bände und tausendneunhundert Seiten umfassen, sind ein langwieriges, Geduld heischendes Erzählunternehmen. Ein Leser, der sich täglich eine halbe Stunde Zeit für die Lektüre nähme, um Johnsons Prosa so geduldig und nachdenklich aufzunehmen, wie sie geschrieben ist, würde für die Lektüre ein halbes Jahr brauchen.
Zum Inhalt - Chronik von 1968
Johnsons Roman ist angelegt in Form einer Chronik, die am 20. August 1967 beginnt und genau ein Jahr später, am 20. August 1968 endet. Erzählt werden dreihundertsechsundsechzig Tage, "Jahrestage", aus dem Leben der Gesine Cresspahl, einer Bankangestellten mecklenburgischer Herkunft, lediger Mutter einer elfjährigen Tochter namens Marie, beide wohnhaft in New York. Für ihre Tochter protokolliert Gesine Cresspahl ihr Leben und das Leben ihrer Eltern, aber zugleich hält sie die geschichtlichen Ereignisse dieser Zeit fest. Ein Jahr misst die äußere Zeitstrecke des Buches, ein halbes Jahrhundert die innere. Die Chronik entfaltet die ganze Epoche vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum August 1968, vom Mord an Rathenau bis zur Ermordung Martin Luther Kings, vom Kapp‑Putsch bis zum Einmarsch der Roten Armee in die Tschechoslowakei, der dem Prager Frühling ein Ende machte. Der Leser gewinnt Einblicke in unterschiedlichste Lebensbereiche: die Topographie Mecklenburgs, das Leben in englischen Kleinstädten, die Slums von Manhattan oder die Berichterstattung der "New York Times". Er reist von Mecklenburg nach New York, von der Weimarer Republik in das Amerika der Vietnamkriegs, und am längsten verweilt er in der Zeit eines "Dritten Reiches" und in den frühen Jahren der DDR.
Mecklenburgische Kindheit im Jahr 1953
Gesine Cresspahl erinnert sich an ihre mecklenburgische Kindheit und Jugend bis zum 17. Juni 1953, gefolgt von der allmählichen Durchsetzung des "real existierenden Sozialismus", so wie auch Uwe Johnson ihn erlebt hatte. Und sie träumt davon, dass diese real existierende Korruption endlich an ihr Ende kommt, um einem Sozialismus mit menschlichem Gesicht Platz zu machen. Sie setzt ihre Hoffnungen auf die Prager Reformsozialisten vom Frühjahr 1968. An ihrem letzten, allerletzten Jahrestag, am 20. August 1968, fliegt sie mit der Tochter Marie nach Prag, um dort, wie es heißt, den Sozialismus zu "reparieren" - nur wenige Stunden, bevor die Truppen des Warschauer Paktes den Wenzelsplatz besetzen.
Geschichte einer Desillusionierung
Uwe Johnson verweigert seinem Buch das ursprünglich intendierte hoffnungsfrohe Finale, dem die reale Geschichte zuvorkam. "Wohin kann man noch auswandern?", fragt Gesine Cresspahl, "auf den Mond?" So erzählen die "Jahrestage" die Geschichte einer Desillusionierung, die, wie es im Roman heißt, "weder anzunehmen noch zu vergessen ist". Gesine Cresspahls letzte Hoffnung ist das Erzählen: Sie spricht ihre Erinnerungen auf ein Tonband, um sie zu bewahren "für wenn ich tot bin". Erzählen als Erinnerungsarbeit. Oder, mit Uwe Johnsons Worten, der Versuch, "eine Wirklichkeit, die vergangen ist, wieder herzustellen". Eine Wirklichkeit in ihren komplexen Bezügen, noch nicht versteinert zum historischen Monument und offen für die Zukunft. Dies der Literatur noch einmal abverlangt zu haben, war Uwe Johnsons Vermächtnis. Im letzten Absatz seines Romans stehen die Worte: "... unterwegs an den Ort wo die Toten sind ..." Er enthält das Programm dieses späten Realisten, der kein anderes Programm hatte als das geduldige Erzählen.