Vorlesetag: Welche Kompetenzen stärkt das Vorlesen?
Jedem dritten Kind in Deutschland wird selten oder nie vorgelesen. Das zeigt eine Umfrage der Stiftung Lesen. Für die Kinder erschwert es das Lesenlernen und auch andere Kompetenzen bleiben auf der Strecke.
In der Bücherhalle Eidelstedt in Hamburg wird heute vorgelesen. Zwölf Jungen und Mädchen, etwa vier bis zehn Jahre alt, drängen sich um die beiden Vorleserinnen vom Projekt Lesewelt. Die Kinder blättern die Seiten um, stellen Fragen, erzählen aber auch von sich selbst. Vorleserin Sonja nimmt sich beim Lesen Zeit für diese Gespräche und fragt die Kinder auch oft, was ein Wort bedeuten könnte.
Vorlesen stärkt das Mitgefühl und die Hilfsbereitschaft
"Wir haben ja in Eidelstedt viele Kinder, die einen ausländischen Hintergrund haben, die sind es vielleicht nicht gewohnt, zu Hause Deutsch zu sprechen, und deswegen frage ich lieber nochmal nach, weil es mir wichtig ist, dass sie auch verstehen, worum es in diesem Buch geht", sagt Sonja. Auch wenn es mal laut wird: Den Kindern sind die Bücher trotzdem wichtig. Wenn eins zu Ende gelesen ist, sausen sie los und holen neue, bitten darum, dass ihr Buch als nächstes dran ist. Es ist kein andächtiges, frontales Vorlesen - und das sei generell gut so, sagt Sabine Uehlein, Programmgeschäftsführerin der Stiftung Lesen. Denn diese Dialoge förderten nicht nur den Wortschatz, sondern noch vieles mehr.
"Kinder können nachfragen: 'Was ist damit gemeint?', können auch Alltagserlebnisse verarbeiten, wenn sie eine Geschichte hören, wo ein Kind ähnliche Erfahrungen hat - zum Beispiel: In der Kita lief's nicht so gut. Dann kann das Kind sich manchmal auch viel besser mit seinen eigenen Themen öffnen", so Uehlein. Außerdem stärke Vorlesen das Mitgefühl: "Wir sehen bei Kindern, denen häufig und viel vorgelesen wurde, dass sie empathischer sind. Dass sie häufig hilfsbereiter sind, weil sie diesen Perspektivwechsel vornehmen können - schon im jungen Alter. Da ist jemand, dem es schlecht geht, dem biete ich Hilfe an. Dieser Impuls fehlt häufig Kindern, denen nicht vorgelesen wird."
Eltern mit Vorleseerfahrung lesen auch selbst vor
Und von ihnen gibt es viele. Einem Drittel aller ein- bis acht-jährigen Kinder wird nie oder nur selten vorgelesen. Das zeigt der aktuelle Vorlesemonitor - die jährliche Befragung der Stiftung Lesen. Laut Sabine Uehlein hängt ganz viel davon ab, ob den Eltern selbst als Kind vorgelesen wurde: "Dann lesen sie auch ihren eigenen Kindern vor. Das ist völlig unabhängig vom Hintergrund, vom Bildungsabschluss, sondern dieses persönliche Erleben und Erfahren - das geben Eltern an ihre Kinder weiter."
Dreiviertel der Eltern, denen früher vorgelesen wurde, tun dies auch für ihre Kinder - aber nur die Hälfte derjenigen ohne eigene Vorleseerfahrung. "Ein wichtiger weiterer Punkt: Sind überhaupt Bücher im Haushalt vorhanden? Und sind diese Bücher in Sprachen, zum Beispiel in verschiedenen Familiensprachen, aus denen Eltern dann gerne vorlesen?", so Uehlein.
Wenig Kinderbücher in Haushalten
Fast ein Drittel der befragten Familien hat weniger als zehn Kinderbücher. Ein weiterer Grund, warum Bücherhallen und ehrenamtliche Vorlesende wie Dagmar Rabsilber in Eidelstedt solch eine wichtige Rolle spielen. "Ganz einfach: Wenn ich die Begeisterung sehe, was man erreichen kann mit Büchern, mit dem Wort, mit dem Anfassen - das ist einfach toll", so Rabsilber. "Ich hoffe, ich wünsche mir, dass die Kinder das mit nach Hause nehmen und sich dann selbst durch die Bücher bereichern. Das wäre schön."
Eltern gaben auch an, dass sie zu wenig Zeit zum Vorlesen hätten - und dass ihre Kinder zu unruhig seien oder keine Lust darauf hätten. In diesen Fällen könnte digitales Vorlesen eine gute Alternative sein, so die Stiftung Lesen: Smartphones und Tablets gäbe es fast überall und immerhin ein Viertel der Eltern nutze diese bereits zum Vorlesen für ihre Kinder.
"Zu früh gibt es nicht": Plädoyer für Vorlesen ab dem Babyalter
Denn ob digital oder bei Papa oder Mama auf dem Schoß: Beim Vorlesen verknüpfen sich Bereiche im Gehirn des Kindes, die für das Lesenlernen enorm wichtig sind. Als Baby und Kleinkind haben sie Wörter bisher nur gehört. Aber auf den Seiten des Buchs oder in der App sehen sie dann auch die Schriftzeichen, die diese Dinge beschreiben. Diese "Wortbilder" speichern die Kinder beim Vorlesen ab - später auch die einzelnen Buchstaben und Silben. Dafür braucht das Gehirn viel, viel Wiederholung. Deswegen appelliert Sabine Uehlein von der Stiftung Lesen an Eltern, schon ab dem Babyalter so oft wie möglich vorzulesen.
"Zu früh gibt es nicht. Häufig starten Eltern erst, wenn ihr Kind in die Kita kommt. Das heißt, das sind eigentlich schon zwei oder drei ungenutzte Jahre, wo man schon Sprach- und Geschichtenerfahrung machen kann", so Uehlein. Mindestens genauso wichtig sei es aber, dass Eltern nicht aufhören vorzulesen, wenn ihr Kind selbst lesen lerne. Denn: "Wir alle erinnern uns noch daran, dass das am Anfang sehr mühsam ist - und häufig sind dann Kinder frustriert. Das ist unsere Bitte an Eltern: Hören Sie nicht auf vorzulesen, wenn Ihr Kind anfängt, selbst zu lesen. Das ist sonst ein bisschen wie eine Strafe."