Roman "Über Menschen" von Juli Zeh: Wankende Weltbilder
Juli Zehs Roman "Über Menschen" stand nach Verkaufsstart im Frühjahr 2021 ganz oben auf der Bestseller-Liste. Schauplatz ist ein fiktives Dorf in der Prignitz: Bracken.
Mit einem Spaten versucht Dora verzweifelt ein Gemüsebeet anzulegen. Zusammen mit ihrer Hündin, genannt Jochen der Rochen, ist sie nach Bracken gezogen und hat ein altes, heruntergekommenes Haus erworben.
Es klingt nach einer Mischung aus Brachen und Baracken. Oder nach einer Tätigkeit, die auf Baustellen ausgeübt wird, unter starker Lärmentwicklung mit schwerem Gerät. Morgen wird gebrackt. Leseprobe
In Berlin konnte es Dora bei ihrem zum Corona-Apokalyptiker mutierten Freund nicht mehr aushalten. Sie ist eine Kreative, arbeitet, politisch korrekt, für eine Werbeagentur, die Kampagnen und Spots für nachhaltige Produkte entwickelt. Mit wenigen Sätzen kann Juli Zeh Porträts entwerfen, nah an der Karikatur, aber umso treffender.
Dora ist kein typischer Großstadtflüchtling. Sie ist nicht hergekommen, um sich mithilfe von Biotomaten zu entschleunigen. Leseprobe
Doras Weltbild gerät ins Wanken
Dora sucht nach mehr, Dora will wissen, wie sie leben kann - ein einsamer Mensch, der vor Beginn der Pandemie so viel gearbeitet hat, dass er die Einsamkeit kaum gespürt hat. Doras Weltbild scheint wohlsortiert, doch in Bracken passt plötzlich nichts mehr zusammen: "In Bracken ist man unter Leuten. Da kann man sich nicht mehr so leicht über Menschen erheben. Wirst dich dran gewöhnen müssen", erklärt Tom, der dort zusammen mit seinem Freund, einem Kleinkünstler, einen Blumengroßhandel betreibt.
Gewöhnen heißt auch zu lernen, dass der kahlgeschorene Nachbar zur Rechten, der "Dorfnazi", für Dora da sein kann, obwohl er mit seinen Freunden das Horst-Wessel-Lied singt und "Linke klatscht". Er zimmert ihr unaufgefordert ein Bett, stellt Stühle in den Garten, raucht am Abend an der Mauer mit Dora eine letzte Zigarette. Dass er todkrank ist, will er nicht wahrhaben.
Juli Zeh konfrontiert den Leser
Anders als in "Unterleuten" wechselt Juli Zeh nicht die Perspektive. "Über Menschen" ist kein Kaleidoskop, sondern ein Roman über eine Großstädterin, die grün wählt, sich für den Beruf aufopfert und zum Einkaufen nur mit Baumwollbeuteln geht, aber manchmal einfach nicht mehr weiter weiß:
Die kribbelnden Bläschen brachten Doras Magen durcheinander und explodierten im Kopf. Sie fühlte sich schwindelig, als stünde sie vor einem Abgrund. Der Abgrund war die Vergeblichkeit. Leseprobe
Es gibt viele Sätze wie diese in dem Roman, manchmal nah dran am Klischee, in ihrer Einfachheit fast banal und doch so treffend, dass man sich als Leserin, als Leser gemeint fühlt. Juli Zeh bildet nicht nur eine Weltsicht ab. Sie zeigt, wie verschieden Menschen Wirklichkeit empfinden - hier die gutverdienenden Großstädter, dort die alleinerziehenden Mütter auf dem Land.
"Über Menschen": Corona spielt nur eine untergeordnete Rolle
Corona ist nur die Kulisse, vor der sie die Geschichte spielen lässt, die meisten Probleme waren vorher schon da: Klimawandel, Landflucht, Bildungsmisere. Aufgeben ist trotzdem keine Option, auch für Dora nicht:
Weitermachen ist die einzig sinnvolle Antwort auf das Weitergehen. Die einzige Chance auf Anpassung an das Ungeheuerliche. Leseprobe
"Über Menschen" hat nicht die Komplexität und die Qualität von "Unterleuten", trotzdem trifft Juli Zeh mit diesem Roman ins Mark. Außerdem weiß sie, wie eine gute Geschichte funktioniert, welche Spannungsbögen sie aufbauen muss. So liest sich "Über Menschen" leicht, obwohl das, was drinsteckt, teilweise ziemlich harte Kost ist. Schließlich geht es ums Überleben.
Über Menschen
- Seitenzahl:
- 416 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Luchterhand
- Bestellnummer:
- 978-3-630-87667-2
- Preis:
- 22,00 €