Über Brillanz und Blödsinn: Denis Scheck zu Gast bei DAS!
Denis Scheck, bekannt als "Literaturpapst", prägt die deutsche Literaturszene mit seinen prägnanten Analysen und Urteilen. In seinem Buch "Schecks Bestsellerbibel" schaut er humorvoll und kritisch auf zwei Jahrzehnte Literatur.
In der Sendung "druckfrisch" stellt er regelmäßig Bestseller vor. Welche Werke haben ihn besonders beeindruckt, und welche hat er gnadenlos aussortiert? Im Gespräch gibt er Einblicke in die Highlights und Fehltritte der Buchwelt sowie die Arbeit eines Literaturkritikers. Er erzählt, warum lesen nicht nur bildet, sondern sogar die Lebenserwartung erhöht, welche zehn Gebote man vor dem Schmökern eines Buches beachten sollte, und natürlich auch, welche Werke unbedingt ins Regal gehören und welche nicht. Hier ein Auszug aus dem Gespräch mit Deutschlands bekanntestem Literaturkritiker Denis Scheck.
Herr Scheck, Lesen kann also unser Leben verlängern, wie denn?
Denis Scheck: Es gibt eine amerikanische medizinische Studie aus dem Jahr 2016, die das wirklich nachgewiesen hat. Wer sogenanntes "Deep Reading" praktiziert, also sich auf Romane oder auch komplexere Sachbücher mehrere Stunden am Tag, oder in der Woche einlässt, sorgt dafür, dass sich sein Leben um mehr als zwei Jahre und vier Monate verlängert. Das ist doch mal eine gute Nachricht.
Aber jetzt im November Blues ist das doch oft vielleicht so eine kleine therapeutische Maßnahme, oder?
Scheck: Ich lese 365 Tage im Jahr. Deshalb ist Lesen für mich nichts Saisonales. Ich bin auch immer etwas überfragt, wenn man mich nach Winter- oder Sommerbüchern fragt. Ein gutes Buch ist ein gutes Buch - egal zu welcher Jahreszeit. Vielleicht ist man für ein Capriccio im Frühling oder im Sommer eher empfindlich und möchte die großen Russen im Herbst und dem Winter lesen - möglich. Aber mir geht es eigentlich nicht so.
Was macht ein gutes Buch für Sie aus?
Scheck: Ein gutes Buch ist ein Buch, das mit mehr oder minder sanften Ohrfeigen meinen Blick in eine Richtung zwingt, wo ich freiwillig nicht hingeschaut hätte. Ein gutes Buch erweitert meine Weltanschauung, meine Wahrnehmung von der Welt. Jemand, der Franz Kafka gelesen hat, wird in seiner Weltanschauung auf immer verändert, wird mit Bürokratie, mit Hierarchie, mit Justiz anders umgehen. Jemand der Samuel Beckett gelesen hat, wird auch seine eigene Existenz anders wahrnehmen. Und jemand, der die großen Romane von Jane Austen kennenlernen durfte, wird ein anderes Verhältnis - nicht unbedingt übrigens zur Liebe haben, weil Jane Austen gar nicht so sehr über Liebe schreibt. Jane Austen schreibt sehr viel über Geld. Man hat sie deshalb die erste marxistische Autorin der Welt genannt, und das ist sie auch tatsächlich.
Ich bin bei Kafka kurz zusammengezuckt, weil ich gedacht habe, viele Abiturient*innen denken jetzt: "Um Gottes Willen, da wühle ich mich gerade durch." Es ist nicht so einfach.
Scheck: Ich hatte das große Privileg mit einer Kollegin vom RBB, Anne-Dore Krohn, die ist da Literaturredakteurin, eine Kafka-Revue zusammenstellen zu dürfen. Kafka lesen hat wirklich mein Leben verändert. Man kann auch den heiteren Kafka entdecken. Man kann mit Kafka herzlich lachen. Heute noch kann ich keine Stellenanzeige lesen, ohne an Kafkas berühmten Aphorismus zu denken "einen Käfig gegen einen Vogel suchen". Solche Stellungen sind sehr oft Käfige, die quasi auf das Einfangen freier Vögel spezialisiert sind.
Hatten sie selbst eine Art Erwachungsroman?
Für mich waren Comics sehr prägend. Auch die fantastischen Entengeschichten von Carl Barks in der wunderbaren deutschen Übersetzung von Doktor Erika Fuchs, die die Sprechblasen von Tick, Trick und Track, Onkel Dagobert und Donald Duck ins Stahlbad der deutschen Klassik getaucht haben. Noch heute, wenn ich einen Mikrofontest machen muss, sage ich besonders gern: "Kann ich Armeen aus dem Boden stampfen, wächst mir ein Kornfeld auf der bloßen Hand?" Eigentlich zitiere ich da eine Donald-Duck-Story, die heißt "Theaterfimmel", da will er unbedingt Bühnenstar werden. Aber tatsächlich habe ich sehr lachen müssen, als ich mal in Stuttgart im Theater "Wallenstein" von Friedrich Schiller sah und diese Verse hörte, weil Erika Fuchs Donald Duck Wallenstein zitieren lässt. Das wusste ich aber als kleines Kind nicht, sondern dachte, das sei Originaltext von Donald Duck.
Bei den Taschenbüchern, glaube ich, sind viele bei ihnen. Aber als Kind war ihre Leidenschaft für Science Fiction recht groß. Sie haben mit 13 Jahren eine literarische Agentur gegründet.
Scheck: Das gilt als ein bisschen komisch. Aber wissen Sie, wenn wir die Karrieren von Profi-Fußballerinnen und -Fußballern anschauen oder von Profimusikern, dann finden wir das ganz normal, dass die ab ihrem vierten Lebensjahr auf dem Bolzplatz standen oder Klavier spielen. Nur ein junger Autor, der ist in Deutschland immer jemand Mitte 50. Ich war sicherlich anders, als andere Kinder. Ich hoffe, dass jedes Kind anders ist als andere Kinder. Wir haben die Aufgabe, unsere Individualität ein bisschen auszubilden. Aber wenn sie einem 13-Jährigen relativ viel Geld an die Backe werfen und ihn zudem noch schulisch nicht überfordern, dann ist es wahrscheinlich nicht die beste Art und Weise, seinen Charakter zu entwickeln. Mit anderen Worten: Ich ging meinen Mitschülern und meinen Lehrern ganz gewaltig auf die Nerven. Davon bin ich überzeugt.
Und woher kam das viele Geld?
Ich habe dann diese Agentur gegründet und übersetzte und habe damals im Vergleich zu meinen Mitschülern, die vielleicht 20 oder 50 Mark Taschengeld hatten, eben dann doch schon relativ gut und viel verdient. Deshalb bin ich mit fünfzehneinhalb auch ausgezogen, und lebe seither von den Erzeugnissen meiner Schreibmaschine oder meiner Speicherschreibmaschine, beziehungsweise meines Computers.
Jetzt haben Sie sich sogar 20 Jahre geschnappt und darüber ein Buch geschrieben - über die Bestsellerlisten "Schecks Bestsellerbibel". Was ich ganz lustig fand, weil Sie wollen eigentlich nicht Literaturpapst genannt werden.
Scheck: Literaturpapst ist Kokolores. Ich bin bestenfalls ein Bischof oder ein Kardinal. Allerdings, dachte ich, wenn schon Literaturpapst, dann möchte ich auch mal eine Bibel schreiben. Also dann möchte ich mich auch mal eine Etage höher bewerben. Und wenn schon eine Bibel, dann gibt es ja eine ganz tolle Textform: die Liste - die zehn Gebote.
Ein Gebot ist zum Beispiel: "Lesen Sie skeptisch. Trainieren Sie Ihr Gespür für den Unterschied zwischen Brillanz und Blödsinn." Aber wie kann man das trainieren?
Scheck: Nehmen Sie einfach mal den neuen Roman von Sebastian Fitzek, von Paulo Coelho, das Sachbuch von Elke Heidenreich und halten das mal kritisch gegen das Licht. Überlegen Sie mal, was das bei eingeschaltetem Verstand taugt. Wenn jemand wie beispielsweise Peter Hahne - der großartigste Meister der Katachrese, also der Vermischung zweier Bilder - wenn der einen Satz schreibt wie: "Die Höhenflüge seiner Lebensziele kann man nicht auf Sand bauen." Dann fällt es noch dem Blödesten wie Schuppen von den Augen. Das ist doch Quatsch, das ist reiner Kokolores. Ernest Hemingway sagte: Das Wichtigste, was man als Schriftsteller braucht, aber auch als Leserin oder als Leser, ist ein "built in shockproof bullshit-detektor" und so einen eingebauten stoßsicheren Bullshit-Detektor, den brauchen wir beim Lesen auch. Damit fallen ganz viele Paläste in sich zusammen, und man stellt fest, dass ganz viele Kaiser eben relativ nackt sind.
Bei den zehn Geboten sagen Sie, dass man Bücher von Autoren eines anderen Geschlechts lesen soll.
Scheck: Es ist ja das unglaubliche Geheimnis und das Geschenk der Literatur, dass es uns in die Lage versetzt, jeweils ins andere Geschlecht, in andere Geschlechter - es gibt ja mehr als zwei - zu schlüpfen, in andere Zeiten zu springen, sich sogar in die Rolle eines anderen Menschen aus einer anderen Zeit oder anderen sozialen Herkunft zu begeben. Sogar mal die Welt aus der Perspektive eines Kaninchens wahrzunehmen - oder aus den Augen eines Drachen. Welche Chance haben wir denn, solche Reisen zu unternehmen und nicht immer um den eigenen Nabel zu kreisen, sondern mit Hilfe des Buches, uns neu zu erfinden und uns dabei selbst auf die Spur zu kommen. Denn darum lese ich ja, weil ich herausfinden will, was mich eigentlich zu dem macht, der ich bin?
Viele gehen jetzt vielleicht in die Buchläden und lassen sich was empfehlen und orientieren sich an den Bestsellerlisten.
Scheck: Es ist ein semantisches Missverständnis. Viele verwechseln die Bestsellerliste mit einer Liste der besten Bücher. Das gibt es auch. Beim SWR wird diese von Kritikern erstellt: die Bestenliste. Das ist was Kuratiertes. Eine Bestsellerliste, das sind lediglich die meistverkauften Bücher in Deutschland. Wenn sie als Freund der Feinmechanik eine Armbanduhr suchen, dann möchten sie ein möglichst edles Kunstwerk am Handgelenk haben und nicht eine der meistverkauften Uhren. Wenn sie Freunde von Hermès-Handtaschen sind, möchten Sie nicht eine der meistverkauften Handtaschen haben. Genauso ist es in der Literatur auch. Der neue Lyrikband von Daniela Seel "Nach Eden", gerade erschienen im Suhrkamp-Verlag, der wiegt den ganzen Schrott dieser Bestsellerliste eines Jahres auf. Das sind 80 Seiten, die aber potenziell eine lebensverändernde Wirkung auf Leserinnen und Leser ausstrahlen können. Dafür gebe ich dann die Erkenntnisse von Herrn Fitzek und Herrn Hahne gerne her.
Haben Sie mal eine Rezension bereut?
Scheck: Ja, aber keine von den Kurzrezensionen. Anders als mein berühmter Kollege Marcel Reich-Ranicki. Der hatte - man stelle sich vor - ausgerechnet "Die Blechtrommel", das wichtigste Werk der deutschen Nachkriegsliteratur, in Bausch und Bogen quasi als Schund und pornografisch verdammt und musste dann zwei Jahre später sein Mäntelchen Richtung Wind ausrichten und schrieb eine zweite Kritik. Darin sagte er: "Ich habe mich geirrt." Mich so zu verhauen, das ist mir bisher noch nicht gelungen. Aber ich habe mal einen Roman von Philip Roth "Sabbaths Theater" kritisiert. Der beginnt damit, dass ein Mann, eben dieser Puppenspieler Sabbath, auf dem Grab seiner Geliebten onaniert. Dann steigert sich dieser obsessiv erotische, pornografische Roman in über 500 Seiten. Das war mir zu viel, muss ich sagen. Irgendwann dachte ich, jetzt habe ich es kapiert - und ihn negativ besprochen. Ich muss aber zugeben, im Abstand von 20 Jahren lese ich es anders. "Sabbaths Theater" ist ein großer satirischer, pornografischer Roman. Es nimmt nichts von der Größe von Philip Roth weg. Das würde ich heute anders machen.
Das ist vielleicht so, weil man sich selbst auch ein bisschen verändert oder nicht?
Scheck: Ich hoffe natürlich, dass ich mich in bald 60 Jahren auch etwas verändert habe, denn wir wissen von Brecht: "Wer sich nicht verändert, der hat allen Grund zum Erbleichen." Man muss sich zwar nicht unbedingt positiv verändern, dennoch glaube ich, dass die lebenslange Beschäftigung mit Literatur einen zumindest auf die Idee bringen könnte, dass man in bestimmten Ansichten vollkommen Unrecht hat. Es hilft ja auch, sich zu vergewissern: Die Grundlagen der abendländischen Philosophie, des abendländischen Denkens, stammen zum Beispiel aus dem antiken Griechenland, also einer pädophilen Sklavenhaltergesellschaft. Das ist das absolute Gegenteil von dem, was wir heute aus guten Gründen im 21. Jahrhundert gutheißen. Dennoch: Entweder wir hören auf, Plato und Sokrates zu lesen und Sophokles zu spielen, oder wir akzeptieren, dass viele Menschen in anderen Zeiten einen völlig anderen ethischen Wertekanon hatten als wir heute.
Sie lesen zwei bis drei Bücher in der Woche. Kommt es vor, dass Sie sagen: "Mein Hirn braucht auch mal eine Pause", es ist ja permanent gefüttert durch neue Geschichten?
Scheck: Nein, mein Hirn hat in 59 Lebensjahren noch nie signalisiert, dass es eine Pause braucht. Im Gegenteil. Mein Hirn sagt mir immer: "Bitte rege mich an."
Und das immer wieder durch neue Literatur. Vielen Dank, dass Sie uns die heute vorgestellt haben. Das war ein tolles Gespräch.
Das Gespräch führte Ilka Petersen.