Ein Mann (Peter Wawerzinek) mit Anorak vor einer weißen Holztür. © Manuela Zalewski
Ein Mann (Peter Wawerzinek) mit Anorak vor einer weißen Holztür. © Manuela Zalewski
Ein Mann (Peter Wawerzinek) mit Anorak vor einer weißen Holztür. © Manuela Zalewski
AUDIO: Literaturcafé mit Peter Wawerzinek (44 Min)

Peter Wawerzinek wird 70: Virtuos, wild und unerschrocken

Stand: 28.09.2024 06:00 Uhr

Peter Wawerzinek ist nicht nur Schriftsteller, er kann auch singen, zeichnen, performen und hat als Regisseur großartige Filme wie den Dokumentarfilm "Lievalleen" über seine eigene Kindheit produziert. Heute wird der gebürtige Rostocker 70 Jahre alt.

von Anke Jahns, NDR Nordmagazin

Seine Romane wie "Rabenliebe" gehen unter die Haut, sind wild und unerschrocken. Gerade hat er eine langwierige schwere Krebserkrankung überwunden. Erstmals seit fünf Jahren ist er wieder vor Publikum aufgetreten: im Literaturcafé von NDR1 Radio MV, sprühend vor Lebensenergie.

Traumatisierende Kindheitserlebnisse

Wawerzinek lebt inzwischen in Magdeburg, Halt sucht er aber immer wieder in seiner Heimat. An der Ostsee ist er aufgewachsen, in drei Kinderheimen und bei Adoptiveltern. Der Schriftsteller verarbeitet all das, was ihn hier geprägt hat, in seinen Romanen. Die Eltern hatten ihn in einer Rostocker Wohnung zurückgelassen, als sie in den Westen flohen. Er war drei, seine kleine Schwester zwei Jahre alt. Erst nach fünf Tagen wurden die traumatisierten Kinder gefunden.

Wawerzinek verwandelt den Stoff seines Lebens in große Kunst, vor allem in seiner nach Vögeln benannten Roman-Trilogie: Für "Rabenliebe" wurde er 2010 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet und gewann auch den Publikumspreis beim Wettbewerb in Klagenfurt.

Mein Leben kennt keine andere Jahreszeit als den Winter. Das Jahr hindurch herrschen Vorwinter, Winter, Nachwinter. Die Jahre stehen in Reihe wie Schneemänner mit nichts angekleidet als löchrigen Töpfen auf ihren Köpfen und Rüben, wo sonst Nasen im Gesicht stecken und ewig ist da Nebel um mich herum. Nebel, Schneejahre, Schneenebeltage geben mir Statur. Auszug aus "Rabenliebe"

Schreiben als Befreiungsakt

"Rabenliebe" war eine literarische Sensation, aber auch das richtige Buch zur richtigen Zeit. In den Zeitungen konnte man von verhungerten Kindern in Deutschland lesen. Unhaltbare Zustände in Kinderheimen in Ost wie West kamen ans Tageslicht und die Gesellschaft diskutierte über die Folgen von Kindheitstraumata. "Rabenliebe" musste man Mitte der 2010er-Jahre unbedingt gelesen haben.

Für den Schriftsteller war das Schreiben des Romans ein Akt der Befreiung: "Ich glaube, dass ich mit diesem Buch auch eine Last abgelegt habe. Es ist meine Lebenslast gewesen. Es waren immer Leute, die Dinge an mir nicht verstanden haben. Dann haben sie nach Antworten gesucht und haben gemeint: Das kann nur daran liegen, dass du eine Macke hast, eine Muttermangel-Macke oder die Vatermangel- Macke."

"Virtuose Formsprache mit eigenwilligen Schwingungen"

Durch das autofiktionale Schreiben gewinnt Wawerzinek die Macht über seine eigene Geschichte. In seinem Roman "Schluckspecht" beschreibt er seine jahrzehntelange schwere Alkoholabhängigkeit, in "Liebestölpel" seine Schwierigkeiten zu lieben und Liebe anzunehmen. Er entwickelt in seinen Texten einen ganz eigenen Sound, auch deshalb wird er im November mit dem Preis der Schillerstiftung für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Die Jury schreibt, dass sich Wawerzineks Texte "so wild und unerschrocken ins eigene Leben schmeißen - dass die Zartheit der nachgezeichneten Bewusstseinserschütterungen umso mehr frappiert". Und sie lobt "die virtuose Formsprache, die das Werk in einer eigenwilligen Schwingung voranträgt".

Verdichtung erzwingt den Rhythmus

Seit dem Roman Rabenliebe greift Peter Wawerzinek auf einen handwerklichen Kniff zurück: "Dann hab ich eine Liste angefangen: 'Diesbezüglich', 'auch', 'sobald', 'desto' und solche Worte. 'Manche', 'manch einem', 'hin und wieder' - und die hab ich alle weggenommen. Dann hab ich noch eine Liste gemacht mit anderen Worten, die dann fast bis ins 'Und' hineinging - um das auch noch rauszulassen. Komischerweise klangs dann poetisch. Und ich war richtig erstaunt, dass das von mir sein soll."

Die Verdichtung erzwingt einen Rhythmus. Damit hatte der kleine, fast unscheinbare Wawerzinek auch schon die Literaturszene der DDR bereichert, er begeisterte das Publikum vor allem mit Stehgreif-Lyrik und Limericks:

"Aschtonnengerüche
Stiegen in die Küche
Stiegen zum Fenster der Küche hinaus
Waren nur kurz im Haus
Und hinterließen 712 Flüche."

"Eine Frau in Eisbach-Zellerfeld
alltäglich in ihren Keller fällt
Sie treibt es als Sport
und hält den Rekord
zumal sie jedesmal etwas schneller fällt." Zwei Limericks von Peter Wawerzinek

Im Alter von 70 Jahren hat Wawerzinek aber immer noch große Vorhaben: "Ich wollte immer noch ein Kinderbuch machen mit eigenen Illustrationen. Und immer, immer die absolute Oberliga erreichen mit der Novelle. Ich träume davon, so was wie die 'Schachnovelle' zu schreiben: Dieser Text muss einen Anlass haben, der am Anfang kommt und am Ende nicht aufgelöst wird - und dazwischen 100 Seiten, das habe ich mir vorgenommen. Aber noch habe ich das Thema nicht."

Weitere Informationen
Vorschaubild für den Podcast Kultur auf NDR 1 Radio MV © iStock Foto: golero
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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Kunstkaten - Kultur aus MV | 29.09.2024 | 19:05 Uhr

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