Matthias Senkel: "Dunkle Zahlen"
Der Roman "Dunkle Zahlen" von Matthias Senkel war 2018 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Der Autor von "Dunkle Zahlen" heißt laut Umschlag "GLM-3" - eine golem-artige, digitale Literaturmaschine.
"'GLM-3' teilt das Los ihrer beiden Vorgängermodelle: Sie ist verschollen. Überliefert wurde nur ihr unvollendetes Poem 'Dunkle Zahlen', das nun erstmals auf Deutsch vorliegt." Leseprobe
Vorstellbar wäre das schon: Im vergangenen Jahr schaffte es bereits eine von einem Algorithmus geschriebene Kurzgeschichte in Japan in die engere Auswahl für einen Science-Fiction-Preis. Nicht ohne Grund sagt eine der Figuren dieses Buches: "Manchmal, wenn ich ein gut geschriebenes Programm lese, denke ich, dass das unsere neue Lyrik ist! Das hat eine formale Schönheit, ganz ohne jeden Beigeschmack."
Vorreiter sind Programmierer in der Sowjetunion
Doch "Dunkle Zahlen" ist menschgemacht. Der vermeintliche Übersetzer ist der Autor: Matthias Senkel, der bereits 2013 mit seinem Erstling "Frühe Vögel" 100 Jahre Raumfahrtgeschichte zu einem fantasievollen, längst nicht nur an den Fakten orientierten Roman verarbeitete. Nun also widmet er sich fast 200 Jahren Computergeschichte - vor allem der in der Sowjetunion, wo junge Programmierer um die Weltherrschaft hacken.
Wacht auf, Programmierer! Wacht auf, ihr Athleten!
In Boolscher Algebra zum Start angetreten!
Ein Schaltkreis erglüht: Ein Rekord eingestellt!
Programmierer, wacht auf, wir erobern die Welt!
In Zukunft, da siegen Computer statt Waffen
- das erhebt uns noch weiter über die Affen
Wacht auf, ihr Adepten der Informatik!
Schreibt: RUN! Die Parole: Bloß keine Panik!
Leseprobe
Fiktion und Märchen
Doch schon diese 1985 in Moskau stattfindende Spartakiade junger Programmierer, auf der dieses Lied gesungen wird, ist reine Fiktion. Zwar tauchen viele historisch belegte Personen und Maschinen auf, wie etwa der Brite Charles Babbage, der als Erfinder eines der allerersten Computer galt oder die russischen Großrechner BESM, die in den 50er-Jahren die schnellsten Rechner in Europa waren. Das aber vermischt Senkel mit Märchenhaftem: einer kubanischen Übersetzerin, die sich in einen Vogel verwandelt, oder einem sprechenden Hecht, der jedem drei Wünsche erfüllt - bis er von einem schwerhörigen Angler gegessen wird.
"Wsewolod, der schon lange kein Hörgerät mehr einsetzte, da er sich die teuren Batterien nicht leisten konnte oder wollte, erinnerte sich, dass er solcherlei Säuseln keine Beachtung mehr schenken wollte: Es spukt einfach viel zu viel herum im Kopf eines einsamen Alten! Mit geübten Handgriffen zerlegte er seinen Fang und bereitete ihn über dem Lagerfeuer zu. Obwohl er die moosbewachsenen Schuppen sorgfältig abgeschabt und die Haut kross gebraten hatte, schmeckte der Hecht sonderbar." Leseprobe
Wissen und Witz liegen dicht beieinander
Wissen und Witz liegen in diesem Buch ganz dicht beieinander. Dazu kommt eine große Experimentierfreude mit der literarischen Form: Kreuzworträtsel und Agentengeschichten mischen sich mit fiktiven Dichterbiografien und länglichen, mitten in den Text eingestreuten Abkürzungsverzeichnissen. Damit gehört Matthias Senkel ganz sicher zu den stilistisch kreativsten Autoren unserer Zeit.
Doch erzählerisch zeigen sich einige Schwächen. Das Personal seiner Handlung bleibt merkwürdig blass, und es gelingt ihm nicht, die vielen verwickelten Fäden seiner zahlreichen Handlungsstränge zu einem Gesamtwerk zu verknüpfen. Ein Autor also, den man sich ganz sicher merken sollte. Der Leipziger Buchpreis wäre aber doch eine Nummer zu groß.
Dunkle Zahlen
- Seitenzahl:
- 488 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Matthes & Seitz.
- Bestellnummer:
- 978-3-95757-539-5
- Preis:
- 24,00 €