Ingo Schulze: "Geht nicht darum, als Sieger vom Platz zu gehen"
Schriftsteller Ingo Schulze ist seit Anfang November neuer Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Im Gespräch mit NDR Kultur spricht er über die Debattenkultur in Deutschland und die Überwindung, sich gegen die Mehrheitsmeinung zu positionieren.
Zu den Aufgaben der Akademie für Sprache und Dichtung gehöre es "sich für den freien Austausch der Meinungen in Wort und Schrift einzusetzen und zu einer differenzierten Debattenkultur beizutragen", hob Schulze bei seinem Antritt als Präsident hervor.
Wie steht es aus Ihrer Sicht um unsere Debattenkultur?
Ingo Schulze: Ich finde es schwierig, da jetzt eine generelle Einschätzung zu geben. In Zeiten von Kriegen ist das sicherlich immer etwas angespannt. Die Polarisierungen sind größer. Es braucht sicherlich auch eine gewisse Entschiedenheit und Haltung. Aber hier in Deutschland sollten wir versuchen, differenziert zu sprechen. Bei aller Entschiedenheit und Haltung, das schließt sich einander nicht gegenseitig aus.
Sie definieren die Akademie als einen Raum, in dem das "angstfreie Gespräch" möglich sein sollte. Wo und wovor müsste jemand in Deutschland Angst haben?
Schulze: Ich merke das manchmal an mir: Es kostet mich Überwindung, wenn ich etwas sage, wo ich weiß, dass es nicht die Mehrheitsmeinung ist. Andererseits sollte man in unserem Land nicht von Mut sprechen müssen, wenn man etwas sagt. Ich finde es gut, wenn es einen Raum gibt, in dem man wirklich nach dem besseren Argument sucht. Ich gehe in ein Gespräch, um danach klüger zu sein und nicht um als Sieger vom Platz zu gehen. Vielleicht lerne ich im Gespräch meine eigenen Grenzen kennen und vielleicht lernt mein Gegenüber auch seine Grenzen kennen.
Es hat vor nicht allzu langer Zeit eine Kontroverse um Sie und eine jüngere Verlagskollegin, Charlotte Gneuß, gegeben. Ihr Debütroman "Gittersee" spielt im Dresden der 1970er-Jahre. Sie haben dem Verlag eine Art Mängelliste vorgelegt: mit Anmerkungen, wie es damals gewesen ist. Wie haben Sie diese Debatte wahrgenommen?
Schulze: Das ist äußerst unglücklich gelaufen. Das waren Anmerkungen, die keinesfalls für die Öffentlichkeit gedacht waren. Sie waren zur Hilfe gedacht und sind auch so angenommen worden. Dass es öffentlich als eine Mängelliste bezeichnete wurde, das war sehr dumm und hat mich schon ganz schön angegriffen. Das war nicht schön.
Es ist oft so, dass Dinge verkürzt oder aus dem Zusammenhang gerissen werden. Das trägt auch nicht zu einer besseren Debattenkultur bei. Müssen sich die Medien häufiger selbst hinterfragen?
Schulze: Ich finde, das gilt grundsätzlich für jeden. Man merkt schon, dass die Öffentlichkeit da eine enorme Wirkmacht hat. Ich finde, dass mit dieser Macht und mit dieser Verantwortung meistens auch gut umgegangen wird. Aber es gibt eben auch Momente, wo ich denke: 'Mensch, da muss man jetzt nicht so zuhauen. Die oder der hat doch auch noch eine ganz andere Lebensleistung.' Wenn jemand einen Fehler gemacht hat oder eine Unsicherheit oder eine Dummheit, dann muss man die Leute nicht fertigmachen.
Können Sie Punkte nennen, bei denen Sie denken: Da hört die Meinungsfreiheit in jedem Fall auf. Auch gerade in den aktuellen Diskussionen?
Schulze: Das ist für mich insofern schwierig, weil wir im Grundgesetz und in den Gesetzen eigentlich ganz klare Regeln haben. Auf die muss man meiner Ansicht nach nicht noch explizit verweisen oder sie verschärfen. Es gibt den Paragrafen zur Volksverhetzung. Wenn jemand diesen Überfall, das Massaker auf Israel, bejubelt, dann ist das etwas, das meiner Ansicht nach strafrechtliche Folgen haben muss. Aber wenn jemand Angehörige im Gazastreifen hat und um die trauert oder bangt, dann muss er oder sie das auch sagen dürfen.
Das Gespräch führte Philipp Schmid.