Ideen von Maria Montessori: "Die weiße Rasse als Idealmensch"
"Das Anormale verhindern und das Normale fördern": Die Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter setzt sich in ihrem aktuellen Buch "Der lange Schatten Maria Montessoris" mit dem Menschenbild und der Pädagogik der Ärztin und Biologin auseinander.
Gerade bringt das Historiendrama "Maria Montessori" das Leben der italienischen Reformpädagogin in die Kinos. Montessorischulen gehören neben den Waldorfschulen zum Gegenentwurf staatlicher Bildungseinrichtungen - und sind nicht unumstritten. Bei Rudolf Steiner ist inzwischen bekannt, dass er esoterischen und rassistischen Theorien anhing - und ähnlich war es auch bei Maria Montessori. Das schreibt die Professorin für Erziehungswissenschaft Sabine Seichter in ihrem aktuellen Buch "Der lange Schatten Maria Montessoris". So hat sich Montessori als Ärztin und Biologin für die Menschenvermessung interessiert. Damit war sie um 1900 bei weitem nicht allein, sagt Sabine Seichter im Interview.
Frau Seichter, für einige Menschen ist Maria Montessori eine der größten Pädagoginnen überhaupt. Dabei war sie eigentlich Ärztin und Biologin. Welche Rolle hat das in Ihrem Werk gespielt?
Sabine Seichter: Maria Montessori, wie Sie richtig sagten, gehört heute fast unhinterfragt in die Kanonbildung des Faches. Das ist interessant und alles andere als selbstverständlich, denn sie war Ärztin und Biologin. Das kann man fast auf jeder Seite lesen. Wenn man eines ihrer Hauptwerke aufschlägt, auf das ich mich hauptsächlich beziehe, nämlich die sogenannte "Pädagogische Anthropologie", wird unverkennbar, dass wir es mit einer Wissenschaftlerin zu tun haben, die ihr Denken alles andere als aus pädagogischen Referenzen speist, sondern aus biologischen, evolutionstheoretischen, rassenanthropologischen und sexualhygienischen Ansichten. Somit sind ihre Referenzdenker auch nicht in erster Linie Pädagogen der Zeit. Stattdessen zählt sie etwa sogenannte Anthropometrie-Wissenschaftler dazu, die sich mit der Menschenvermessung beschäftigen, wie es völlig en vogue um 1900 war, - aber vor allem auch Köpfe der Eugenik und der Kriminalanthropologie. Sie alle interessierten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts für sogenannte degenerierte Rassen, zu denen man, in den Begriffen dieser Zeit gesprochen, Idioten, Verbrecher, Prostituierte und Säufer zählte. Die Frage war: Wie entstehen diese sogenannten anormalen Menschen? Und vor allem: Wie sehen sie aus? Es war insofern wichtig, das festzustellen, weil man sie in Zukunft verhindern wollte, um die sogenannten Normalen besser fördern zu können.
Wenn Sie diese Anthropologie lesen, ein Werk, das aus 600 Seiten besteht, werden Sie merken: Es handelt sich um ein durchgängiges Werk. Es geht hier nicht um einzelne Zitate, wie man gerne meinen würde. Montessori versucht, die sogenannte weiße Rasse als Idealmensch zu konstruieren. Sie sah diese als die triumphierende Rasse an - ein Denken, das sich aus der Biologie speist, das wir aber auch auf dem pädagogischen Feld dieser Zeit haben. Daher vermischt sich vieles bei ihr.
Kann man denn dann zwischen diesem Denken bei Maria Montessori und ihrem pädagogischen Konzept trennen? Und wenn ja, wie gelingt das?
Seichter: Wichtig ist zu sagen, dass der Begriff der Rasse auch schon um 1900 kein wertneutraler Begriff war. Man musste diesen Begriff nicht benutzen, um über den Menschen zu schreiben. Viele andere haben anthropologische Gedanken geäußert und sind ohne rassenanthropologische und eugenische Referenzen ausgekommen. Man benutzte den Begriff schon um diese Zeit, um unterschiedliche Menschentypen zu hierarchisieren und über das Aussehen auch zu stigmatisieren. Für Montessori ist dieses Wissen um den Menschen wichtig, denn sie versuchte, vor allem durch Forschung an den sogenannten Idioten herauszubekommen, was gemacht werden muss, damit möglichst das Anormale verhindert und das Normale gefördert werden kann. Also: Welche Umgebung muss vorbereitet werden, welche Materialien müssen den Kindern zur Verfügung gestellt werden? Bis zu ihrem Tod kreist ihr Denken darum, wie diese Degeneration, also dieser kulturelle, moralische und intellektuelle Verfall, von dem sie überzeugt war, zu verhindern und eine bessere Gesellschaft zu erreichen ist.
Mein Laienwissen über die Montessori-Pädagogik war bisher: Das Kind kann sich freier entfalten, es gibt nicht den ganz frontalen Unterricht, es wird eingegangen auf das Lerntempo von einzelnen Kindern. Das passt für mich gar nicht zu diesen recht rüden Rassentheorien.
Seichter: Wenn Sie wissen wollen, wie Montessori sich Erziehung gedacht hat, dann kann man wunderbar Beschreibungen aus ihrem ersten Kinderhaus, dem Casa dei Bambini, nachlesen. Das ist mittlerweile alles gut dokumentiert, auch in deutscher Sprache. Da werden Sie lesen, dass in einem "richtigen" Kinderhaus eine Atmosphäre herrschen muss, wo das Kind höchst diszipliniert, konzentriert und fokussiert arbeiten kann. Für dieses konzentrierte Arbeiten muss das Kind vor allem lernen, gehorsam zu sein. Es muss lernen, gemäß ganz bestimmten Vorgaben zu arbeiten. Montessori lag nichts mehr fern, als dass Kinder kreativ sind und ihre Fantasie ausleben können. Das waren ihre Ursprungsgedanken. Wenn man das jetzt in Verbindung bringt mit der Vorstellung des perfekten Kindes: Dieses perfekte Kind orientiert sich nicht am individuellen Kind, sondern an der Vorstellung eines Durchschnittsmenschen. Dieser Durchschnittsmensch ist eine Konstruktion, die verobjektiviert ist - und das individuelle Kind soll sich diesem Durchschnitt annähern.
Was machen wir jetzt mit den heutigen Montessori-Einrichtungen, die Sie in Ihrem Buch einen pädagogischen Trödelmarkt unbegrenzter Möglichkeiten nennen?
Seichter: Heutzutage besteht die Schwierigkeit darin, dass Montessori keine geschützte Marke ist - und schon gar keine Garantie für eine gute Erziehung. Montessori ist eine komplexe Denkerin. Sowohl die Wissenschaft als auch die Praxis sind gut beraten, kritisch auf diese Figur zu schauen. Doch das tut man momentan lieber nicht. Das hängt damit zusammen, dass wir es alle gerne mit Erfolg zu tun haben. Wir haben gerne jemanden, der unsere Sehnsüchte stillt. Wir haben gerne jemanden, zu dem wir hochschauen können und der scheinbar eine romantische Sicht auf die Erziehung wirft. Genau das bedient dieser Mythos. Mir als Wissenschaftlerin ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es aber nicht unbedingt die Wissenschaftlerin Montessori war, die so gedacht hat.
Das Gespräch führte Mischa Kreiskott.